Politik

Vor der Bavaria in München demonstrieren Aktivisten des Bund Naturschutz gegen schmutzige Luft in der City. (Foto: dpa)

08.09.2017

Ökologische Schere

Diesel-Gipfel mit Kommunalvertretern: Von Zuschüssen für umweltfreundliche Verkehrsprojekte profitieren vor allem reiche Städte

Mediziner, die auf die Behandlung von Suchtkranken spezialisiert sind, kennen das Phänomen: Manchmal bringt ein kalter Entzug langfristig größeren Erfolg als schier endlose Therapiegespräche, verbunden mit der Verabreichung von allen möglichen Substitutionsmitteln.

Diese Erfahrung macht gerade die deutsche Automobilbranche. Angesichts der drohenden Fahrverbote für Dieselautos hat das Interesse der Käufer an diesen Modellen spürbar nachgelassen. Im August ist nach Angaben des Zentralverbands des deutschen Kraftfahrzeuggewerbes die Zahl der Neuzulassungen von Pkw mit Diesel-Antrieb auf 37,7 Prozent gefallen – ein Rückgang von fast acht Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Statt 111 000 wie im August 2016 entschieden sich im vergangenen Monat nur noch 95000 Käufer für ein solches Modell.

Dagegen stiegen im gleichen Zeitraum die Neuzulassungen von E-Autos um fast 143 Prozent, die von Hybridfahrzeugen sogar um mehr als 200 Prozent. Der Marktanteil von teilweise oder ganz elektrisch angetriebenen Autos stieg damit auf immerhin zwei Prozent. Das ist bei fast 44 Millionen Autos in der Bundesrepublik zwar noch nicht spektakulär – aber der Trend geht in die richtige Richtung.

Merkel hat sich Zeit erkauft

Die Frage ist nun, wie der Trend unterstützt wird. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) findet im Nachgang des Diesel-Gipfels mit Kommunalvertretern diese Woche im Kanzleramt: Auf einen härteren Konfrontationskurs zur Autoindustrie zu gehen, sei der richtige Weg. „Durchaus mehr“ als die von den Herstellern zugesagten 250 Millionen Euro zur Verbesserung der Luftqualität in den Städten solle die Branche beisteuern. Dabei sollte Gabriel wissen, dass am Ende kein Cent davon durch Verzicht der Bosse beglichen wird. Sondern – so praktizieren es Unternehmen seit Jahr und Tag bei Strafgebühren und ähnlichem – Audi, BMW & Co. werden diese Belastung und alle eventuellen weiteren Kosten weiterreichen: an die Kunden über höhere Preise, an die Mitarbeiter über geringere Prämien und an die vielen wirtschaftlich abhängigen Zuliefererbetriebe über schlechtere Konditionen. Getrieben vom populistischen Bedürfnis nach Strafen verprellt die SPD im Vorfeld der Wahl mal wieder mit traumwandlerischer Sicherheit ihre potenzielle Klientel: Facharbeiter, kleine Selbstständige und Menschen mit mittleren Einkommen. Obendrein wird im Willy-Brandt-Haus eine ökonomische Binsenweisheit missachtet: Wenn die Autoindustrie in Deutschland hustet, dann hat bald die gesamte Volkswirtschaft den Schnupfen. Für eine Partei, die im Falle der Regierungsübernahme ganz viele – teure – soziale Wohltaten plant, ist das außerdem kontraproduktiv. Denn irgendwo muss das Geld ja herkommen.

Liegt also eher Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) richtig, die es irgendwie allen recht machen wollte? Den Autofahrern und Oberbürgermeistern mit ihren Fahrverbotsängsten, den über die immer dreckigere Luft empörten Umweltschützern und den auf die bedrohten Jobs verweisenden Konzernvorständen. Nun, vielleicht kurzfristig, bestenfalls.

An den vom Bund mal eben bereitgestellten 500 Millionen Euro extra zur „Priorisierung der Aufgaben“ im Mobilitätsfonds der Städte gibt es ja erst einmal nichts auszusetzen. Noch intensiver und schneller umrüsten auf Elektrobusse, eine intelligente Vernetzung von ÖPNV und Eisenbahn, bessere, weil Zeit und Kraftstoffverbrauch sparende Parkleitsysteme: Natürlich finden die Kommunen das toll. Doch Städtetagspräsidentin Eva Lohse (CDU) hat bereits klargemacht, die Kommunen seien „nicht Verursacher der hohen Stickoxidwerte“ und könnten das Problem nicht alleine lösen. „Drei Viertel der Emissionen im Verkehr in der Stadt werden von Diesel-Pkw verursacht“, gibt Lohse zu bedenken.

Obendrein gibt es das Geld für die jeweilige Kommune nur, wenn diese einen entsprechenden Eigenanteil drauflegt. Klar, dass etwa der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) das Ergebnis insgesamt zufrieden bewertet. Im Osten und Nordwesten Deutschlands, wo das Geld kaum für die Pflichtaufgaben reicht, sieht das schon etwas anders aus.

Die Schere zwischen den bundesdeutschen Städten wird sich damit künftig nicht nur in ökonomischer, sondern auch in ökologischer Hinsicht weiter öffnen. Doch die Kanzlerin hat sich mit ihrem erneut beherzten Griff ins – noch – volle Staatssäckel erst einmal Zeit erkauft. Und das ist für Merkel zurzeit das Wichtigste. (André Paul)

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