Politik

In Pforzheim geht das Busnetz an die Bahn - gegen den Willen der Stadt. (Foto: dpa)

14.10.2016

Privatisierung unter Zwang

Städte schlagen Alarm: Sie können nicht verhindern, dass die Deutsche Bahn ihren Nahverkehr übernimmt

Die Angst vor einer Zwangsprivatisierung des Nahverkehrs in deutschen Städten wächst. So hat in Pforzheim die Deutsche Bahn zum 11. Dezember die Übernahme des gesamten Stadtbusnetzes gegen den Willen der Stadt durchgesetzt. Der kommunale Verkehrsbetrieb Stadtverkehr Pforzheim, seit 1911 mindestens zum Teil in städtischer Hand, wird abgewickelt. Mehr als 200 Mitarbeiter – Busfahrer, Bürokräfte, Servicepersonal – verlieren ihre Jobs.

Wie ist der Bahn das gelungen? Sie hat eine Sonderregelung im Personenbeförderungsgesetz genutzt, die bei einer Gesetzesänderung 2013 in Kraft trat. Danach können Unternehmen vor Beginn der Ausschreibung die Übernahme von Netzen beantragen, wenn sie diese ohne öffentliche Zuschüsse betreiben. Es gilt das Prinzip: Wenn private Verkehrsunternehmen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eigenwirtschaftlich erbringen können, haben sie Vorrang vor gemeinwirtschaftlichen Verkehrsangeboten. Dies sei das Ergebnis eines Kompromisses gewesen zwischen den damaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP sowie den Oppositionsfraktionen SPD und Grünen, sagt Martin Burkert (SPD), Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag. „Zum Ergebnis dieser intensiven Verhandlungen stehe ich“, erklärt Burkert, „gerade weil bei allen Beteiligten eine hohe Bereitschaft zum Kompromiss vorhanden war und wir als Opposition viel durchsetzen konnten.“

Kompromiss hin oder her, der Deutsche Städtetag schlägt Alarm, denn er sieht in Pforzheim einen gefährlichen Präzedenzfall und ein Thema, das an Fahrt gewinnt. „Wir fordern eine Gesetzesänderung, damit die Städte den öffentlichen Nahverkehr wieder selber regeln können“, erklärt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags. Es könne nicht sein, „dass ein Unternehmen den öffentlichen Nahverkehr in einer Stadt übernimmt, ohne dass die Stadt mitentscheiden kann.“ Der Städtetag fürchtet, dass sonst „bewährte kommunale Verkehrsunternehmen verdrängt und die Qualität des Verkehrsangebots gefährdet“ würden. „Die Kommunen wollen einen guten Nahverkehr für die Bevölkerung sichern und müssen wieder das Recht dazu erhalten“, findet Dedy.

Anders sieht es naturgemäß die Deutsche Bahn, deren Tochterunternehmen DB Regio das Geschäft mit städtischen Buslinien ausbauen will. Man werde Chancen im Einzelfall prüfen und Angebote abgeben, wo sich dies rechne. Wenn die Bahn zuschussfrei den Stadtbusverkehr übernehme, sparten die Städte Millionen Euro an Zuschüssen. In Pforzheim sind es angeblich drei Millionen Euro im Jahr. „Diese Steuergelder können anderweitig eingesetzt werden“, so ein Bahnsprecher. Es sei „volkswirtschaftlich sinnvoll, dass solche Betreiber Vorrang genießen, die Busverkehr ohne öffentliche Zuschüsse erbringen können“. Zudem handele es sich um keine „Zwangsprivatisierung“, sondern um ein „offenes, faires und diskriminierungsfreies Verfahren“, das die städtischen Verkehrsunternehmen rechtlich nicht ausschließe. In Hildesheim zum Beispiel, erklärt die Bahn, habe auf dem selben Weg kürzlich das städtische Unternehmen gegen das Busunternehmen der Bahn gewonnen.

Experte: „Fiskalisch verführerisch, aber falsch“

Helmut Dedy hält dagegen: Auch die sogenannten zuschussfreien Verkehrsunternehmen erwarteten in der Praxis öffentliche Zuschüsse, zum Beispiel für die Beförderung von Schülern und Schwerbehinderten sowie für vergünstigte Preise im Verkehrsverbund. Das Recht, Vorgaben für die Ausschreibung im öffentlichen Nahverkehr zu machen, müsse weiter bei den Städten liegen. Eine EU-Verordnung sehe zudem vor, dass Kommunen ihre Verkehrsleistungen an kommunale Unternehmen direkt vergeben können: „Das Gesetz muss dringend ergänzt werden.“

Martin Burkert will die Sonderregelung nicht sofort wieder kassieren. Das zuschussfreie Wirtschaften dürften die Verkehrsunternehmen allerdings nicht durch Lohndumping, Stellenstreichungen oder „Tricksereien bei den Umweltstandards“ erreichen. Und auch Thorsten Glauber, verkehrspolitischer Sprecher der Freien Wähler im Landtag, warnt davor, dass „größere Verkehrsverbünde lukrative gegen weniger lukrative ausspielen könnten“. Eigenwirtschaftlichkeit dürfe nicht dazu führen, dass Qualität der Beförderung, Taktung und Service abgebaut würden.

Der Nahverkehrsexperte Heiner Monheim hat schon diverse Stadtbusnetze geplant, zum Beispiel in Lemgo, Lindau, Bad Salzuflen, Detmold und Euskirchen. Er nennt sich „einen Freund kommunaler Verantwortungsübernahme“ und zeigt sich mithin skeptisch, ob die Sonderregelung flächendeckend erfolgversprechend sein kann: „Die Strategie der Zwangsübernahmen wirkt zunächst fiskalisch verführerisch, aber sie ist falsch“, sagt Monheim. Stadt- und Ortsbussysteme könnten nur funktionieren, „wenn sie wirklich lokal sind, ein lokales Image haben, ortsnah geplant wurden, das Personal den Ort kennt und der Aktionsradius bewusst auf die lokale Masche beschränkt bleibt“. Die Deutsche Bahn könne „all dies nicht liefern. Ich teile die Auffassung, dass der Städtetag sich dagegen wehren muss“, erklärt Monheim.

Gelegenheit dazu besteht schon im kommenden Jahr, wenn die nächste Evaluierung des Personenbeförderungsgesetzes im Bundestag ansteht. „Über mögliche Änderungen“, sagt Martin Burkert, „müssen wir dann diskutieren.“ (Jan Dermietzel)

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