Politik

In nur einem Jahrzehnt sank allein die Zahl der Betriebskrankenkassen (BKK) von 45 auf mittlerweile 19. (Foto: ddp)

18.06.2010

Reif fürs Sauerstoffzelt

Immer mehr Krankenkassen kämpfen ums Überleben – Viele suchen ihr Heil in Fusionen

Für die Kunden sind es gute Nachrichten: Man werde, so verkündet es die BKK A.T.U auf ihrer Internetseite, für das gesamte Jahr 2010 keinen Zusatzbeitrag von den Versicherten erheben. „Das garantieren wir Ihnen!“, heißt es weiter. Mit dem Versprechen versucht sich die Dachauer Betriebskrankenkasse von ihren Wettbewerbern abzugrenzen. Denn immer mehr Gesetzliche Krankenversicherungen (GKV) verlangen einen Extra-Obolus – in der Regel 8 Euro monatlich.
Möglich wurde die Verzichts-Zusage laut A.T.U.-Sprecher Peter Hanrieder, weil seine Kasse rechtzeitig auf die wachsenden Herausforderungen der GKV reagiert habe: mit einer Fusion. Die Dachauer taten sich kurzerhand mit vier kleineren Krankenkassen zusammen. „Von den damit verbundenen Einsparungen, etwa bei den Verwaltungsausgaben, profitieren unmittelbar unsere Mitglieder“, sagt er. Die jährlichen Ausgaben des Versicherers würden so um 4,3 Millionen Euro pro Jahr sinken.
Die BKK A.T.U mit ihren 100 000 Versicherten ist nicht die einzige Kasse, die im knallharten Markt der GKV auf Expansion setzt. Schon seit Längerem suchen vor allem kleinere Versicherungen ihr Heil in Zusammenschlüssen. Manche wollen so einer drohenden Pleite entgehen, andere erhoffen sich durch eine höhere Mitgliederzahl eine größere Marktmacht. Seit dem Jahr 2000 schrumpfte die Zahl der gesetzlichen Krankenversicherungen von bundesweit rund 400 um die Hälfte auf derzeit noch 166.
Auch der Freistaat ist vom Fusionsfieber erfasst: In einem Jahrzehnt sank allein die Zahl der Betriebskrankenkassen (BKK) von 45 auf mittlerweile 19. Und die Häufigkeit der Zwangsehen zwischen den Kassen dürfte in den kommenden Monaten wegen der explodierenden Kosten für Medikamente und Arzthonorare sogar noch zunehmen. Auf 11 Milliarden Euro beziffern Experten das drohende Defizit der Krankenkassen für das kommende Jahr. Der Gesundheitsökonom Gerd Glaeske ist überzeugt: „Die Fusionswelle gewinnt an Fahrt.“ Der Bremer Professor geht davon aus, dass die Zahl der Kassen in den nächsten zwei bis drei Jahren von derzeit 166 um zwei Drittel auf etwa 100 schrumpfen wird.
Nach Berechnungen der Wirtschaftsberatungsgesellschaft Ernst & Young sollen im Jahr 2015 sogar nur noch 50 Kassen übrig sein. Die Zahl der Betriebskrankenkassen wird den Experten zufolge von heute 128 auf lediglich zehn zurückgehen. Bayern wird laut Glaeske von der Entwicklung im selben Ausmaß betroffen sein wie die restliche Republik.
Glaeske schätzt, dass sich schon jetzt „so manche kleine und mittelgroße Kasse in einer Schieflage befindet“. Von den bisherigen Pleite-Kandidaten stammt allerdings keiner aus dem Freistaat: Drei Kassen mussten nach Angaben des Bundesversicherungsamts 2010 bereits eine drohende Insolvenz anzeigen. Im April machten die City BKK und die BKK für Heilberufe den Anfang. Letztere hatte – wie die BSZ berichtete – zuvor wegen eines Zusatzbeitrags von 37,50 Euro im Monat einen Großteil ihrer Mitglieder verloren. In dieser Woche folgte die Kölner GBK . Deren Vorstand verhandelt derzeit mit anderen Kassen über eine mögliche Fusion. Denn eine Pleite hätte dramatische Folgen. „Das ist ein Teufelskreis. Geht eine BKK pleite, müssen die anderen für sie in die Bresche springen und könnten so selbst Probleme bekommen“, erläutert Glaseke. Die drohende Insolvenzwelle dürften die Sorgenfalten des noch jungen Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler (FDP) noch tiefer werden lassen. Eine Reduzierung der Kassen durch Fusionen ist dagegen ganz in seinem Sinn Schon Röslers Vorgängerin Ulla Schmidt (SPD) hielt eine Zahl von 50 Kassen für ausreichend.
Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Kathrin Sonnenholzner, ist überzeugt: „Wenn es in Deutschland ein paar Versicherungen weniger gibt, ist das kein Problem.“ Sie verweist auf Frankreich, wo nur eine einzige gesetzliche Krankenversicherung existiert. Otto Bertermann, Gesundheitsexperte der FDP-Landtagsfraktion, hält eine Reduzierung der Kassen gar für erforderlich: „So fallen Wasserköpfe weg, und die Verwaltungskosten sinken.“ Auch die DAK sieht im Rückgang der Kassenanzahl eine „Bereinigung der Branche“.
Der Verband der Betriebskrankenkassen zeichnet derweil ein anderes Bild: „Die kleinen und mittleren Betriebskrankenkassen arbeiten effektiver als die großen Kassen“, sagt eine Sprecherin des BKK-Bundesverbands. So seien die Verwaltungskosten der Betriebskrankenkassen einer Studie zufolge pro Kopf gerechnet fast ein Fünftel niedriger als die der AOK.
Tatsächlich müssen auch die Großen der Branche kämpfen. Einem Medienbericht zufolge soll die DAK finanzielle Schwierigkeiten haben. Eine DAK-Sprecherin wies dies jedoch auf Anfrage als falsch zurück. Es gebe ausreichende Rücklagen. Allerdings kehrten zehntausende Kunden wegen des Zusatzbeitrags von 8 Euro der DAK jüngst den Rücken.
Um die Finanzmisere im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, fordert Glaeske, dass sich künftig auch Gutverdiener gesetzlich versichern müssen. Zudem mache es Sinn, neben den Löhnen Mieten und Kapitaleinnahmen bei der Beitragsberechnung miteinzubeziehen. „Das bringt neue Einnahmen und ist gerechter“, so der Ökonom. SPD-Frau Sonnenholzner begrüßt die Idee. „Wir fordern schon lange eine Bürgerversicherung, in die alle einzahlen.“ Bertermann will dagegen einen „echten Wettbewerb zwischen den Versicherungen“. Der öffentlich-rechtliche Status der Kassen müsse abgeschafft werden. „Denkbar ist etwa eine Umwandlung in Genossenschaften“, sagt der FDP-Gesundheitsexperte. Er bedauert, dass Rösler mit seiner so genannten Gesundheitsprämie vor allem am Widerstand der CSU gescheitert war. „Röslers Vorschlag war sozial ausgewogen. Hier hätten Arbeitgeber, Versicherte und Besserverdiener mehr zahlen müssen“, findet Bertermann.
Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) weist die Kritik zurück: „Die Kopfpauschale ist sozial und gesellschaftlich nicht akzeptabel, überbürokratisch und unpraktikabel. Tobias Lill

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