Politik

Psychiaterin Elif Cindik behandelt in ihrer Münchner Praxis Deutsche und Migranten. (Foto: privat)

01.06.2012

"Sprachdefizite führen oft zu Fehldiagnosen"

Mangelnde transkulturelle Kompetenz bei bayerischen Ärzten und Pflegepersonal führt zu Fehldiagnosen und unnötigen Kosten - Psychiaterin Elif Cindik fordert Studie

BSZ: Frau Cindik, erleben Migranten Krankheiten – etwa eine Depression – anders als Deutsche?
Cindik: Ich habe den Eindruck, Migranten empfinden ihre Symptome generell körperlicher als Deutsche. Dabei dient ihnen beispielsweise bei einer Depression ihr Körper als Ausdruck der psychischen Störung, die sie anders nicht benennen können. Eine typische Schilderung lautet: „Es sind Ameisen an meinem ganzen Kopf.“ Das bedeutet, dass ihnen alles zu viel ist, dass sie erschöpft sind. Von einem Deutschen habe ich so eine Beschreibung noch nie gehört. BSZ: Gibt es migrantenspezifische Krankheiten, die von deutschen Medizinern nicht erkannt werden?
Cindik: Ja. In Mittelmeerländern sind beispielsweise Sichelzellanämie und Mittelmeerfieber verbreitet. Beides ist hierzulande fast unbekannt. Außerdem gibt es unterschiedliche Krankheitshäufigkeiten: Afrikaner leiden mehr an Infektionen wie Hepatitis, weil sie in der Beziehung nicht so gut aufgeklärt sind. Dafür haben sie seltener Vitamin D-Mangel. Aber auch Sprachdefizite bei den Migranten führen zu Fehldiagnosen. BSZ: Wie stark belasten solche Fehldiagnosen das deutsche Gesundheitssystem finanziell?
Cindik: Eine gute Frage. Die Antwort darauf wüsste ich auch gerne. Eine Studie dazu ist längst fällig. Momentan kann ich nur viele Fallbeispiele aus meiner Praxis nennen: Einer meiner Patienten litt bereits als kleines Kind am Mittelmeerfieber, er hatte Schmerzen im Bauchraum, wurde unter anderem am Blinddarm operiert und immer wieder gegen diese unklaren Schmerzen am Körper symptomatisch behandelt. Nach einer Odyssee mit vielen Arztbesuchen stellte endlich ein ebenfalls vom Mittelmeer stammender Kollege die richtige Diagnose Mittelmeerfieber. So etwas führt dazu, dass Migranten oft Ärzte-Hopper sind. Und natürlich verursacht das unnötige Kosten.

"Migranten sind oft Ärzte-Hopper"

BSZ: Wie kann dem entgegengewirkt werden?
Cindik: Indem transkulturelle Lehrinhalte in die Ausbildung aller Mediziner und des Pflegepersonals aufgenommen werden. Außerdem brauchen wir eine bessere Datenlage zu Fragen wie: Sind Migranten anders krank? Liegt einer Krankheit ein genetischer Unterschied zugrunde? Wie kann ich einen Menschen kulturkompetent behandeln und pflegen? Hier sind Stichworte wie Biographiearbeit sehr wichtig. BSZ: Wie sieht transkulturelle Medizin überhaupt aus?
Cindik: Transkulturelle Kompetenz bedeutet unterschiedliche Kommunikationscodes zu lernen und sich nicht verunsichern zu lassen, wenn Patienten mit Migrationshintergrund vermeintlich anders denken. Vor allem sollten der Arzt und das Pflegepersonal nicht ethnozentristisch denken, sondern individuell auf den Patienten eingehen: Wie geht es diesem Menschen? Was braucht er? Welchem Migranten-Milieu gehört er an? Vom intellektuell-kosmopolitischen bis zum traditionell-religiösen gibt es eine große Bandbreite. Letzteres macht in Bayern übrigens nur 20 Prozent aus. BSZ: Können Sie ein Beispiel für ein transkulturell nicht gelungenes Gespräch mit einem Patienten nennen?
Cindik: Will ein Arzt zum Beispiel von einem Iraner wissen, ob ein bestimmtes Medikament bei ihm sexuelle Störungen auslöst, fragt ein Dolmetscher womöglich schwammig: „Haben Sie eine Frau?“ Damit will er auf Persisch im übertragenen Sinne raushören: „Haben Sie regelmäßig Geschlechtsverkehr?“ So erfährt der Arzt aber nicht wirklich, ob sein Patient unter der Medikation Potenzprobleme hat, die er vorher nicht hatte.

In anderen Bundesländern ist man weiter

BSZ: Es ist aber nicht möglich, dass es für jede Nation flächendeckend Ärzte gibt, die ihre Sprache sprechen.
Cindik: Natürlich nicht. Es geht aber auch nicht darum, dass ein Italiener von einem Italiener behandelt werden soll. Es geht darum, dass sich der jeweilige Patient respektiert fühlt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben – die Frage könnte genauso gut lauten: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so direkt frage: Haben Sie Potenzstörungen?“ Was ich meine, ist, dass Mediziner sensibel mit der anderen Kultur umgehen und wissen müssen, wie sie an ihre Informationen kommen, um möglichst optimal zu behandeln. Leider gehört das bis jetzt nicht zum Standard in der Ausbildung von Medizinern und Pflegepersonal. BSZ: Wie ist der Stand der transkulturellen Medizin in Bayern?
Cindik: An der Bayerischen Ärztekammer habe ich dieses Thema als Bestandteil von Weiterbildungsseminaren eingeführt, etwa in der Allgemeinmedizin. Auch interessieren sich immer mehr Professoren für dieses Gebiet. Wir planen eine große Tagung im kommenden Jahr. Noch ist das alles aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. In anderen Bundesländern ist man diesbezüglich weiter. BSZ: Inwieweit?
Cindik: Beispielsweise bilden sich in Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Berlin ganze Teams transkulturell weiter. Das ist bei uns in Bayern leider noch nicht so. Auch existieren hier bislang nur punktuell ausreichend gute Dolmetscherdienste in Krankenhäusern, aber keine in Altenheimen. Auch wenn Kliniken in Selbstauskünften häufig etwas anderes angeben, läuft es hier de facto meist so: Es gibt eine Liste, in der drinsteht: Die Reinigungskraft vom Bereich soundso spricht Serbisch. Dass diese Menschen kein qualifiziertes Fachpersonal ersetzen können, das bei Behandlungen adäquat übersetzt, ist klar. Dabei ist es für die Genesung wichtig, dass ein Patient zum Beispiel vor einer Operation erfährt, was mit ihm geschehen wird.

Patienten verstehen nur einen Bruchteil von dem, was Ärzte sagen

BSZ: Kommunikation ist also das A und O zwischen Arzt und Patient. Ist die nicht auch zwischen einem deutschen Arzt und einem deutschen Patienten schwierig?
Cindik: In der Tat gibt es Studien, die belegen, dass Patienten, egal ob deutsch oder Migrant, nur einen Bruchteil von dem Gespräch mit ihrem Arzt verstehen. Im Umgang mit Migranten wird lediglich ein Problem verschärft, das es sowieso gibt: Die Medizin ist zu wenig sprechend, dafür zu gerätelastig. Sie sollte weniger körperbezogen sein und mehr Vertrauen aufbauen. Das Argument, der Migrant habe eine Bringschuld, er müsse Deutsch können, stimmt nur bedingt: Wenn ein einfacher Bayer vor dem Arzt sitzt, versteht der oft auch nicht, was ihm gesagt wird. Manchmal will er auch nicht verstehen. Über ihn heißt es dann: „Mensch, unser Schorsch sieht nicht ein, dass er nicht mehr so fettig essen darf, wenn er nicht schon wieder einen Herzinfarkt bekommen will.“ BSZ: Das heißt, es gibt auch deutsche Patienten, die renitent sind und ihre Ärzte auf die Palme bringen?
Cindik: Ja, und natürlich darf sich ein Arzt auch mal über seinen Patienten ärgern. Aber nicht, weil der türkischer Herkunft ist, sondern weil dieser spezielle Mensch ihn eben auf die Palme bringt. Schließlich sagt er sich beim bayerischen Patienten auch: „Meine Güte, der Schorsch muss jetzt endlich lernen, die Finger vom Alkohol zu lassen, sonst macht er es nicht mehr lang!“
(Interview: Alexandra Kournioti)

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