Politik

Kein amtierender Bundeskanzler war vor ihr da: Angela Merkel besucht das ehemalige Konzentrationslager Dachau. (Foto: dpa)

23.08.2013

Totenbuch und Fresskorb

Dachauer KZ-Gedenkstätte und Bierzelt: Angela Merkel führt vor, dass das eben doch – trotz aller Kritik – innerhalb von drei Stunden zusammengeht

Von ihrem Besuch in Dachau nimmt Angela Merkel drei Geschenke mit nach Hause: einen Blumenstrauß, einen großen Fresskorb und ein 1300 Seiten dickes Buch, das 33 205 Namen enthält. Vom Umfang her könnte es das Telefonbuch von Dachau sein, auch das Format stimmt, doch das Buch ist in dunkelblaues Leinen gebunden, und das Papier ist nicht so dünn wie bei einem Telefonbuch, deshalb ist es doppelt so dick. Der Titel lautet: Gedenkbuch für die Toten des Konzentrationslagers Dachau. Es führt die Namen der bisher namentlich identifizierten Ermordeten auf, über 8000 fehlen noch. Ein Totenbuch als Geschenk für die Bundeskanzlerin. Am Appellplatz überreicht von Karl Freller (CSU), Landtagsabgeordneter und Direktor der Stiftung bayerische Gedenkstätten, auf dass diese 33 205 Namen von nun an auch im Bundeskanzleramt hinterlegt seien und „nie, nie vergessen werden“.
Bundeskanzlerin Merkel in Dachau, in der KZ-Gedenkstätte – eine Sensation. Der Grund für diese Sensation ist in der deutschen Sprache schwer auszudrücken: die erste Bundeskanzlerin – schon falsch. Merkel ist bekanntlich überhaupt die erste Bundeskanzlerin, mit dem Prädikat kann man jeden Satz schmücken, in dem Merkel das Subjekt ist. Ausgerechnet die Bild-Zeitung hat sich sprachlich am besten aus der Affäre gezogen: „Bundeskanzlerin Merkel hat das ehemalige Konzentrationslager Dachau besucht. Das hat noch keiner ihrer Vorgänger getan.“ Und das ist allerdings unbegreiflich. Von 1949 bis zum 20. August 2013 hat kein einziger amtierender Bundeskanzler den Weg in die KZ-Gedenkstätte gefunden. Nicht Adenauer, nicht Erhard, nicht Kiesinger, nicht Brandt, nicht Schmidt, nicht Kohl, nicht Schröder. Wobei man es Adenauer nicht direkt ankreiden kann, denn in dessen langer Amtszeit gab es auf dem Areal des Dachauer Konzentrationslagers noch gar keine Gedenkstätte, die wurde erst 1965, gegen großen Widerstand, nicht zuletzt aus der Dachauer CSU, gegründet.

Mannheimer hat Bauchschmerzen bei der Verquickung mit dem Wahlkampf


Und nun, mitten in diesem verschlafenen Wahlkampf 2013, steht auf einmal eine in der DDR aufgewachsene Bundeskanzlerin auf dem Appellplatz der KZ-Gedenkstätte Dachau und geht mit dem 93-jährigen Max Mannheimer, der dieses KZ (und zuvor Theresienstadt und Auschwitz) überlebt und nun – 68 Jahre nach der Befreiung – Merkel eingeladen hat, langsam vor, um einen Kranz niederzulegen. Das heißt, Mannheimer wird im Rollstuhl geschoben, erst zur Kranzniederlegung erhebt er sich aus dem Rollstuhl. „Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland“ steht auf der Schleife des Kranzes.
Keine zwei Stunden später wird Merkel im rappelvollen Festzelt des Dachauer Volksfests die beiden anderen Geschenke überreicht bekommen, den Blumenstrauß und den Fresskorb, und sie wird unter dem Jubel des Publikums verkünden, dass sie „weitere vier Jahre Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein“ möchte. An diesem straffen Programm – KZ-Gedenkstätte und Bierzelt in einem Aufwasch – hat sich bereits im Vorfeld Streit entzündet. Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast schimpfte: „Eine geschmacklose und unmögliche Kombination.“ Gewichtiger als Künasts Einspruch sind die Bedenken von Wolfgang Benz. Der langjährige Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin schrieb die zeitgeschichtlichen Anmerkungen zu Max Mannheimers Spätem Tagebuch. Mannheimer versetzt sich in seinem 2000 erschienenen ersten autobiographischen Buch konsequent in die Lage des jungen KZ-Gefangenen, der er von 1943 bis 1945 war. Das heißt, dass er auch vermittelt, wie man als Häftling ständig mit Gerüchten bombardiert wurde und verlässliche Informationen kaum zu bekommen waren. Da heißt es etwa unter der Überschrift August 1944 über Mannheimers Ankunft im KZ Dachau: „Um Mitternacht gibt es Grießbrei. Schmeckt auch kalt gut. Soll aus der Diätküche stammen. Experimente. Galgen, Gaskammer –  und Diätküche? Ich verstehe es nicht.“ Dazu erfährt der Leser dann in einer Anmerkung von Wolfgang Benz: „Im Konzentrationslager Dachau existierte zwar eine Gaskammer, sie wurde jedoch nicht zur systematischen Tötung von Häftlingen, wie dies in den Vernichtungslagern geschah, benutzt.“


Auch im Bierzelt spricht Merkel über das KZ


Und dieser Wolfgang Benz, der sein Forscherleben der Ergründung des unergründlichen Antisemitismus im Allgemeinen und dem KZ Dachau im Besonderen gewidmet hat, findet es schon „beiläufig“, wenn die Bundeskanzlerin vor ihrem Wahlkampfauftritt noch schnell „einen Kranz niederlegt und Betroffenheit äußert“. Und auch  Mannheimer hat Bauchschmerzen bei der Verquickung mit dem Wahlkampf. Und sagt dann doch tapfer in die Tagesschau-Kamera: „Was hab ich unzufrieden zu sein?“
Dass Merkel die KZ-Gedenkstätte lediglich „am Rande einer Wahlkampfreise“ besucht habe, wie die Tagesthemen vermelden, ist nicht ganz richtig. Merkels Besuch in Dachau ist streng paritätisch aufgeteilt: eineinhalb Stunden Gedenkstätte, eineinhalb Stunden Bierzelt. Und die beiden konträren Termine unter einen Hut zu kriegen – Merkel, die Meisterin der Effizienz, kriegt das locker hin. Sie macht nämlich das einzig richtige: Sie bringt das KZ im Bierzelt zur Sprache. Und zwar nicht in dem verschämt-beschwichtigenden Ton, den Politiker bei dem Thema sonst gern pflegen, sondern sie nennt die Dinge beim Namen, und sie geht auch auf die beiden Einrichtungen KZ und Bierzelt ein, die doch nur „einen Katzensprung“ voneinander entfernt seien: „Auch damals war das KZ mitten unter uns. Wer wollte, konnte damals auch sehen und hören.“ Jeder Politiker von SPD/Grünen/Linken würde genau das gleiche sagen – und würde im Dachauer Festzelt damit ausgepfiffen. Allein bei Angela Merkel hält sich der Widerspruch in Grenzen. Auch als sie den Bogen vom KZ zur NSU-Mordserie spannt.
Der Rest des Abends ist ein einziges Heimspiel. Merkel schmiert ihren Zuhörern Honig ums Maul: Die Bayern seien „praktisch überall Weltmarktführer“ (Beifall), sie richtet „ein großes Dankeschön an alle, die im Ehrenamt tätig sind“ (rauschender Beifall), sie preist das hier im Bierzelt zelebrierte „Gemeinschaftsgefühl“ (frenetischer Beifall). Es scheint in ganz Dachau niemand zu geben, der jemals auch nur daran gedacht hätte, nicht CSU zu wählen. Für den Fall, dass doch noch irgendwer mit der SPD liebäugelt, fordert Merkel vehement so eine Art Mindestlohn. Und macht sich zwischendurch über die ewigen Reibereien zwischen CDU und CSU lustig. Bevor sie in das Lamento-Horn des ach so ungerechten Länderfinanzausgleichs stößt, sagt sie: „Obwohl Horst Seehofer nicht hier ist, sag ich’s freiwillig“ – wobei ihr der Lacherfolg ebenso sicher ist wie bei ihrer Feststellung, dass Väter heute schon mal im Haushalt mithülfen – „das war ja früher auch nicht so“. Die „Angie“-Plakate werden hochgehalten, die bundesweit den Wahlkampf der Bundeskanzlerin begleiten. Doch hier im Festzelt hat Merkel soeben eine historische Tat vollbracht: Sie hat die Dachauer nach einem halben Jahrhundert des Haders mit der KZ-Gedenkstätte in ihrer Stadt versöhnt. (Florian Sendtner)

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