Politik

Umfragen variieren stark. „Das ist gut für den Nachrichtenwert, aber schlecht für die Prognosegenauigkeit“, sagt Andreas Graefe. (Foto Robert Haas)

27.10.2016

"Umfragen sind mit größter Vorsicht zu genießen"

Prognose-Forscher Andreas Graefe über die Aussagekraft von Wahlumfragen, warum Institute zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, und wem diese am meisten nützen

„Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Wahl wäre?“ Andreas Graefe, LMU-Forscher und Sky Stiftungsprofessor an der privaten Fachhochschule Macromedia München, sagt: Diese Frage zu stellen, sei das schlechteste Verfahren, um zu einer möglichst genauen Vorhersage zu kommen. Er selbst kombiniert eine ganze Reihe von verschiedenen Methoden und weiß seit Monaten: Hillary Clinton wird das Rennen um das US-Präsidentenamt machen.

BSZ: Herr Graefe, die CSU muss auch laut der neuesten Umfrage um die absolute Mehrheit in Bayern bangen – wie ernst sollten die Parteistrategen diese Warnung nehmen?
Andreas Graefe: Solche Umfragen Monate oder gar Jahre im Voraus sind mit großer Vorsicht zu genießen. Wirklichen Prognosewert haben sie erst kurz vor der Wahl. Außerdem ist die so genannte Sonntagsfrage grundsätzlich schwierig. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass Umfrageergebnisse nicht unbedingt deshalb variieren, weil die Wähler ihre Wahlabsicht ändern. Vielmehr ändert sich, abhängig von der Medienberichterstattung über die favorisierte Partei, die Bereitschaft, überhaupt an einer Befragung teilzunehmen.

BSZ: Welche Frage müsste die CSU denn stellen, um möglichst genau zu erfahren, wo sie steht?
Graefe: Statt nach der Wahlabsicht zu fragen, wäre es viel sinnvoller, die Wähler nach deren Erwartungen über den Wahlausgang zu fragen. In den USA beispielsweise liefern Antworten auf die Frage „Wer gewinnt die Wahl?“ viel genauere Vorhersagen als Antworten auf die klassische Sonntagsfrage. Diese Frage könnten Umfrageinstitute natürlich auch in Bayern stellen. Oder noch spezifischer: „Behält die CSU ihre absolute Mehrheit?“

BSZ: Und wenn mehr als die Hälfte der Befragten das glaubt, ist die CSU auf der sicheren Seite?
Graefe: Nein, Antworten werden ja nicht eins zu eins in den Stimmenanteil umgerechnet. Hier benötigen Sie ein Modell, um die Erwartungen der Wähler über den Wahlausgang in Stimmenanteile umzurechnen. Solche Umrechnungen werden auch mit den Rohdaten der Sonntagsfrage vorgenommen, und jedes Umfrageinstitut wertet die Daten anders aus, was einen großen Einfluss auf das Ergebnis haben kann. Die New York Times hat kürzlich ein Experiment durchgeführt und Rohdaten einer Umfrage an vier Institute gegeben. Und die kamen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Von einem Einpunktevorsprung für Trump bis zu einem Vorsprung von vier Punkten für Clinton. Mit den gleichen Daten!

"Es steht bereits seit Monaten fest: Clinton gewinnt"

BSZ: Und wer macht das Rennen um das US-Präsidentenamt?
Graefe: Hillary Clinton.

BSZ: Weil sich Trump mit seiner Prahlerei über sexuelle Gewalt gegen Frauen selbst ins Aus geschossen hat?
Graefe: Nein, dass Clinton gewinnen wird, wissen wir schon viel länger. Unsere Vorhersagemethode PollyVote sieht Clinton seit Februar klar vorne. PollyVote gibt es übrigens seit 2004 und lag bisher immer richtig, schon Monate vor der Wahl.

BSZ: Und Sie benützen die Frage „Wer gewinnt die Wahl?“
Graefe: Ja, die Antworten auf diese Frage beziehen wir in unsere Prognose mit ein. Aber das ist nur eine von sechs unterschiedlichen Methoden. Dazu kommen unter anderem Experteneinschätzungen und Modelle, die beispielsweise den Zustand der Volkswirtschaft oder die Biographien der Kandidaten mitberücksichtigen. Durch die Aggregation möglichst unterschiedlicher Informationen minimieren wir Prognosefehler.

BSZ: Bei der letzten Bundestagswahl aber lagen auch Sie daneben. Sie haben nicht gesehen, dass die FDP den Einzug in den Bundestag verpasst.
Graefe: Ja, wie alle anderen Prognosen auch. Hinsichtlich der Stimmenanteile war die Prognose allerdings sehr genau. Die Fünfprozent-Hürde in Deutschland stellt uns aber natürlich vor das Problem, dass schon eine Abweichung von 0,1 Prozentpunkten eine immense Auswirkung haben kann. Für die Wahl im nächsten Jahr wollen wir uns noch mal anschauen, wie wir das in die Prognose einbauen können.

BSZ: Ich kann Sie also noch nicht fragen: Wer gewinnt?
Graefe: Nein, dafür ist es noch viel zu früh. Für die Wahl 2013 haben wir unsere erste Prognose im Mai oder Juni veröffentlicht.

"Der Einfluss von Kandidaten auf den Wahlausgang wird überschätzt"

BSZ: Es stehen ja auch noch nicht einmal die Kandidaten fest.
Graefe: Der Einfluss der Kandidaten auf den Wahlausgang wird überschätzt. Langfristige Faktoren wie Parteiidentifikation oder auch die wirtschaftliche Situation im Land sind bessere Prädiktoren. In Deutschland gibt es derzeit ohnehin kein einziges Prognosemodell, das die Kandidatenqualität berücksichtigen würde.

BSZ: Ist es tatsächlich ganz egal, wer antritt?
Graefe: Normalerweise hat das nur marginale Auswirkungen. Außer man hat eine Wahl mit ganz außergewöhnlichen Kandidaten wie aktuell in den USA. Dann hat deren Qualität natürlich einen größeren Einfluss.

BSZ: Wer braucht eigentlich Wahlprognosen?
Graefe: Die Medien zum Beispiel. Sie setzen aber lieber auf klassische Umfragen, die im Gegensatz zu unserer PollyVote-Prognose, die sehr stabil ist, viel mehr variieren. Da rührt sich was, was gut ist für den Nachrichtenwert, aber schlecht für die Prognosegenauigkeit. Und natürlich profitieren auch die Wähler – gerade in Deutschland, wo angesichts kleiner Dritt-Parteien und der Fünf-Prozent-Hürde viele strategisch wählen.

BSZ: Haben die Umfragen, die die FDP vor der Wahl klar über der Fünf-Prozent-Hürde sahen, also auch eine Rolle gespielt, dass sie es am Ende dann doch nicht geschafft hat?
Graefe: Vielleicht wäre es tatsächlich anders ausgegangen, wenn es schon in den Umfragen enger ausgesehen hätte. Aber das ist reine Spekulation.

"Politiker nehmen nur Umfrageergebnisse wahr, die ihnen gefallen"

BSZ: Es gibt die Forderung, dass kurz vor der Wahl überhaupt keine Prognosen mehr veröffentlicht werden sollen. Wie sehen Sie das?
Graefe: Ja, und in Deutschland hat sie eine alte Tradition. Ich persönlich halte das für falsch. Ich finde, die Wähler sollen auf der Basis bestmöglicher Informationen entscheiden können, wem sie ihre Stimme geben. Allerdings muss man sie dann auch sensibilisieren, dass Umfragen oft weit danebenliegen.

BSZ: Wenn ich Ihnen jetzt glaube, dass Sie mit Ihrer Prognose ohnehin richtig liegen, warum soll ich dann noch zur Wahl gehen?
Graefe: Ich denke, da überschätzen Sie die Aufmerksamkeit, die Leute Prognosen schenken. Und Sie unterschätzen, wie viel es den Menschen doch noch wert ist, zur Wahl gehen zu dürfen. Und vielleicht ist es ja auch so, dass die vielen Umfragen und Prognosen die Aufmerksamkeit der Leute hochhalten und damit zu einer höheren Wahlbeteiligung beitragen. Aber wie gesagt: Mir geht es darum, den Menschen möglichst gute Informationen bereitzustellen.

BSZ: Und welchen Nutzen können Politiker selbst aus Umfragen ziehen?
Graefe: Prognosen liefern Entscheidungshilfen für Parteistrategen, beispielsweise in der Frage, mit welchen Themen sie punkten können oder auch in welchen Regionen sie besonders aktiv Wahlkampf betreiben sollten. Leider aber ist es zu oft so, dass Parteien nur Umfrageergebnisse wahrnehmen, die ihnen gefallen. Das ist in Bayern gerne so, zum Beispiel wenn Umfragen der CSU wie aktuell die absolute Mehrheit absprechen. Noch weiter geht aber Donald Trump, der die Ergebnisse gleich komplett umdreht und behauptet: Jede einzelne Umfrage sehe ihn als Gewinner der Debatten.
(Interview: Angelika Kahl)

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