Politik

Ein Plakat zur „Erinnerung an Enver Simsek. Ermordet durch den NSU“ klebt zwischen Absperrgittern vor dem OLG München. (Foto: dpa)

12.07.2013

Ungehörte Zeugen und Mörder in Radlerhosen

Diese Woche stand der Mord am Nürnberger Blumenhändler Enver Simsek im Mittelpunkt des NSU-Prozesses – inklusive grauenhafter und auch peinlicher Details

Die beiden NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt müssen regelrecht im Blutrausch gewesen sein. Das zeigen die Tatort-Spuren in Nürnberg. Zwei Zeugen berichten, dass sie „metallisch harte Schläge“ hörten. Auch die Täter wollen sie beobachtet haben, wie sie vom Tatort flüchteten. Doch die Ermittler verfolgten diese Spur nicht weiter. Sie konzentrierten sich stattdessen aufs „Türkenmillieu“. Erinnert sich noch jemand an die endlose Aufregung im Vorfeld des NSU-Prozesses? Inzwischen arbeitet der Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG) mehr oder weniger geräuschlos vor sich hin. Man kommt auch problemlos in den Verhandlungssaal – egal, ob als  Journalist oder normaler Zuhörer. Denn der Mammutprozess um die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dem mindestens zehn Personen zum Opfer fielen, ist mittlerweile im strafrechtlichen Alltagsgeschäft angelangt. Und dafür bringt die Sensationsmeute natürlich nicht die nötige Geduld mit.


Ein Angeklagter bittet um Urlaub – vergebens


Aber auch auf der Anklagebank zeigen sich erste Ermüdungserscheinungen. Der Angeklagte Andre E. beantragt seine Beurlaubung an solchen Verhandlungstagen, an denen es nicht direkt um seine Tatbeteiligung gehe. Die Bundesanwaltschaft widerspricht: Gegenstand der Anklage sei ein Organisationsdelikt, nämlich die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, da könne man keine Ausscheidung treffen, denn jeden Angeklagten könne alles betreffen. Der Senat sieht das genauso und lehnt den Antrag von Andre E. ab.
Derweil sieht auch die Hauptangeklagte mitunter durchaus urlaubsreif aus. Die von Polizisten und Pathologen in gnadenloser Sachlichkeit vorgetragenen Details eines Mords sind nichts für zarte Gemüter – und Beate Zschäpe ist bekanntlich eine empfindsame Katzenliebhaberin. Als etwa der Nürnberger Kriminalhauptkommissar Helmut Kraus von der Spurensicherung am Tatort des ersten NSU-Mords im September 2000 berichtet und auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl die Blutspritzer im Lieferwagen des von den Neonazis regelrecht hingerichteten Blumenhändlers Enver Simsek haarklein beschreibt, schaut Zschäpe entweder angestrengt in ihren Laptop, als müsse sie gerade jetzt irgendwas sehr Wichtiges nachlesen. Oder sie flüstert mit ihren Verteidigern. Hauptsache, sie muss nicht hören, was ihre beiden Uwes so im Detail an grausigen Sachen angerichtet haben.
Die Blutlache, in der „der Geschädigte“, wie das juristisch heißt, aufgefunden wurde, habe 70 mal 50 Zentimeter gemessen. Darin habe sich ein Zahn von Enver Simsek gefunden, sein Handy und eine Zigarettenschachtel der Marke HB, führt der Kriminaler Kraus sachlich aus. Und der Vorsitzende ergänzt aus den Akten, wo die insgesamt sechs Projektile bei der Obduktion des Mordopfers gefunden wurden: unter anderem im Jochbein, rechts neben der Wirbelsäule in der Rückenmuskulatur. Die Angeklagten tun so, als habe das alles mit ihnen nichts zu tun.
Adele Simsek ist kurz vor dem Zusammenbruch. Die Witwe des Ermordeten sitzt auf der Nebenklägerbank und hört sich das alles an: Wie ihr geliebter Mann stundenlang mit dem Tod kämpfte, wie der Sanitäter, der behelfsmäßig die Erstversorgung übernahm, die ganzen Schusswunden notgedrungen ignorierte und versuchte, die Atemwege vom Blut freizusaugen. Aber es war umsonst.

Die Witwe bedankt sich bei dem Sanitäter


Nach der Verhandlung bedankt sich Adele Simsek bei dem Sanitäter. Ihre Tochter, Semiya Simsek, die über den Mord an ihrem Vater und die Tragödie, die über ihre Familie damit hereingebrochen ist, ein Buch geschrieben hat (Schmerzliche Heimat – Deutschland und der Mord an meinem Vater), ist heute nicht da. Sie hat vor ein paar Tagen ein Kind zur Welt gebracht.
Die Beweisaufnahme zum Mordfall Simsek offenbart einmal mehr eine unglaubliche Schlamperei der Ermittler. Als Zeugen treten auf: Ein pensionierter Elektroingenieur und sein Sohn, die an diesem 9. September 2000 an Simseks Blumenstand vorbeifuhren und aus dessen Lieferwagen „mehrere metallisch harte Schläge“ hörten und zwei junge Männer in Radlerkleidung eilig davongehen sahen. Es ist klar, dass die beiden Männer Zeugen des Mordes wurden, denn die „metallisch harten Schläge“ waren das Geräusch, das die Ceska mit Schalldämpfer im Inneren eines Lieferwagens erzeugte. Doch die Angaben der Zeugen hatten keinerlei Konsequenzen, und das, obwohl auch bei den folgenden Morden immer wieder Zeugen zwei männliche Radfahrer in unmittelbarer Tatortnähe beobachteten, die alles andere als türkisch aussahen. Die Ermittlungen konzentrierten sich dessen ungeachtet aufs „Türkenmilieu“. Die Familie Simsek wurde über Jahre hinweg selbst verdächtigt. Die Witwe wurde gar mit polizeilichen Lügenmärchen – ihr Mann habe eine Geliebte gehabt und mit dieser ein Zweitleben geführt – regelrecht in die Verzweiflung getrieben.
Der Strafprozess, betont die Justiz ein ums andere Mal, sei nicht dazu da, die Pannen bei den Ermittlungen festzustellen, es gehe ausschließlich um Schuld oder Unschuld der Angeklagten. Aber dennoch bringt die Verhandlung die größten Peinlichkeiten an den Tag. Auch wenn Bundesanwalt Herbert Diemer, der Vertreter der Anklage, „keine Auskunft über frühere Ermittlungen anderer Behörden“ gibt. Andere Behörden? Ist die deutsche Justiz denn polymorph oder gar schizophren? Weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut? „Damals haben wir nicht ermittelt“, erklärt Diemer. Er meint die Bundesanwaltschaft. Wenn hier was verbockt wurde, dann nicht von seiner Behörde. Dass sich die Bundesanwaltschaft für die Blindheit gewöhnlicher, „niederer“ Staatsanwaltschaften vielleicht auch ein kleines bisschen mitverantwortlich fühlen könnte, einfach weil es ja doch auch Kollegen sind – das ist anscheinend zu viel verlangt. (Florian Sendtner)

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