Politik

23.12.2011

Vom Neonazi zum V-Mann

Der aufhaltsame Aufstieg eines glühenden Nationalsozialisten mitten im katholischen Regensburg

Das waren „schon aufregende Zeiten“ damals, wird Tino Brandt in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Die Rede ist von der Mitte der 90er Jahre in Thüringen. Was war damals dort so aufregend? Worüber kann man heute so locker plaudern? Tino Brandt, heute 36, war seinerzeit der Chef des Thüringer Heimatschutzes, aus dem dann der Nationalsozialistische Untergrund hervorging, jene Terrorbande, der von 2000 bis 2007 bislang zehn Morde zugerechnet werden, daneben mehrere Sprengstoffanschläge mit Dutzenden Verletzten und diverse Banküberfälle.
Tino Brandt spielt zumindest in der Vorgeschichte dieser nationalsozialistischen Terrorserie eine Schlüsselrolle. Bereits als Jugendlicher war er ein glühender Neonazi. Seine Karriere begann Tino Brandt in Bayern, als Auszubildender in Regensburg (die BSZ berichtete). Seit sich die beiden mutmaßlichen Haupttäter am 4. November in Eisenach selbst richteten und die Dritte im Bunde sich der Polizei stellte, taucht der Name Tino Brandt immer wieder auf.

Jeder entarnte V-Mann war Wasser auf den Mühlen der Nazis


Im Gegensatz zu Ralf Wohlleben und drei weiteren Nazikameraden, die als Unterstützer verhaftet wurden, ist Brandt jedoch nach wie vor auf freiem Fuß. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass seine mutmaßlichen schweren Straftaten (naheliegend ist zum Beispiel die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) von den Verfolgungsbehörden als verjährt angesehen werden. Denn die steile Neonazikarriere des Tino Brandt – zuletzt war er zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der Thüringer NPD aufgestiegen – erfuhr im Mai 2001 eine jähe Wendung: Er wurde als V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes enttarnt. Was bei seinen „Kameraden“ keineswegs Verzweiflung auslöste. Im Gegenteil: Zu der Zeit prüfte das Bundesverfassungsgericht gerade den Antrag, die NPD zu verbieten. Da war jeder enttarnte V-Mann Wasser auf die Mühlen der Nazis.
NPD-Anwalt Horst Mahler (der derzeit eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt) frohlockte, die Aufdeckung Brandts als V-Mann habe „für die Partei ausschließlich Nutzen gebracht“ – bekanntlich scheiterte der Verbotsantrag aus eben diesem Grund der uferlosen V-Mann-Tätigkeit. Brandt indes hielt sich seit Mai 2001 in der Öffentlichkeit verständlicherweise zurück. Für seine Informationen unter dem Decknamen „Otto“ soll er im Lauf der Jahre über 200 000 Mark erhalten haben.
Gegenüber der Zeitschrift Superillu macht Brandt kein Hehl daraus, wo die Staatsknete hingeflossen ist: „Das Geld habe ich natürlich in die Bewegung investiert.“ Im Übrigen bekundet der bislang von den Verfolgungsbehörden unbehelligte Neonazi große Trauer um den Tod der beiden Mörder und versichert: „Ich habe meine Überzeugung aber nie aufgegeben...“
Diese Woche nun hat das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz Medienberichte bestätigt, wonach es im Jahr 2000 seinem V-Mann Otto 2000 Mark überreichte, die dieser an das 1998 untergetauchte Terroristentrio weiterreichen sollte. In eben diesem Jahr 2000 begann die Mordserie – in Bayern: am 9. September wurde der Nürnberger Blumenhändler Enver Simsek erschossen. Zudem enthüllte jetzt die Berliner Zeitung, dass der Verfassungsschutz seinen V-Mann Otto vor der Überwachung und Verfolgung durch die Polizei warnte. Deshalb muss die Erfurter Staatsanwaltschaft nun einer Anzeige gegen den Thüringer Verfassungsschutz wegen Strafvereitelung im Amt nachgehen. Ob Tino Brandt womöglich auch noch vom bayerischen Verfassungsschutz bezahlt wurde, will die Grünen-Landtagsabgeordnete Maria Scharfenberg von Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wissen. Das Landtagsamt hat die Anfrage am 6. Dezember 2011 dem Innenministerium zur Beantwortung binnen vier Wochen zugeleitet. Claus Nordbruch, ein Gesinnungsgenosse Brandts, hat vor zehn Jahren zumindest behauptet, der bayerische Verfasssungsschutz habe Brandt von den Thüringer Kollegen „abwerben“ wollen, als dieser in der zweiten Hälfte der 90er Jahre von seiner Heimatstadt Rudolstadt ins nahe bayerische Coburg gewechselt sei.

Unbedingt wollte er sich als Führer der Neonazis aufspielen


Als Aussage eines Nazis ist diese Information natürlich nicht ernstzunehmen. Doch die bayerischen Verfassungsschützer hätten bereits früher Gelegenheit gehabt, sich für Tino Brandt zu interessieren: 1993 agitierte Tino Brandt in Regensburg. Als 18-jähriger Auszubildender hatte er sich im Lehrlingsheim des katholischen Kolpingshauses einquartiert. Dort tippte er auf der Schreibmaschine Kaderwerbebriefe, die von schwerer Legasthenie zeugen, vor allem aber von dem unbedingten Willen, sich in der Stadt als Führer und Organisator der Neonazis aufzuspielen.
Im Mai 1993 wirbt Tino Brandt bei ausgewählten Adressaten für „ein Treffen mit Kaderfunktionären des Nationalen Blocks“, bittet aber gleichzeitig konspirativ darum, dieses Treffen „nicht an irgendjemand weiterzusagen!“ Der „Nationale Block“ wird wenige Wochen später vom bayerischen Innenministerium verboten. Insofern ist Tino Brandt in Regensburg 1993 vorläufig gescheitert.
Doch 1994 hat er noch einen großen Auftritt vor dem Amtsgericht. Und zwar als Zeuge der Anklage. Linke Studenten haben Flugblätter gegen ihn geschrieben, Brandt fühlt sich verunglimpft – und bekommt prompt recht.
Die Verteidiger der Studenten verweisen vergeblich auf Zeugenaussagen, wonach Brandt mit SS-Hemd gesehen worden sei, den Massenmord an den Juden geleugnet und den Anschlag von Mölln begrüßt habe. Staatsanwalt und Richter wollen nichts davon wissen. SS-Hemd? Tino Brandt vor Gericht: „Das war kein SS-Hemd. Das war ein ganz normales braunes Hemd.“ – „Stimmt es, dass Sie sich am Telefon mit ‚Heil Hitler‘ meldeten?“ – „Nein, nie. Einmal habe ich mich mit ‚Heil dir‘ gemeldet, sonst nichts.“
Das Telefon ist im Lehrlingsheim des Kolpingshauses auf dem Gang, jeder kriegt es mit, wenn hier einer angerufen wird. Ein 18-Jähriger steht im katholischen Herzen von Regensburg im Jahre 1993 im ganz normalen Braunhemd am Telefon und brüllt „Heil Hitler!“ Nein, ganz falsch: nur „Heil dir!“ Und niemanden interessiert’s. Ein windiges Nazibürscherl, dem irgendwer mal klarmachen hätte müssen, wo es langgeht. Es hat sich niemand gefunden. (Florian Sendtner)

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