Politik

Münchner Hauptbahnhof im September 2015. (Foto: Nicolas Armer/dpa)

29.08.2016

"Was ist wohl aus ihnen geworden?"

Die Bilder von Tausenden Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof sind inzwischen Geschichte, eingegangen in das kollektive Gedächtnis. Eine Ehrenamtliche über die Hilfe von damals und heute

"Was ist wohl aus ihnen geworden?" Das fragt sich Marina Lessig oft. Aus den beiden Jungs, die sie von den Mülltonnen wegholte und überredete, sich in ein Kinderheim bringen zu lassen. Aus dem Baby, das mitten im Chaos in einem Krankenwagen geboren wurde - oder aus dem jungen Syrer, der nur wenig jünger war als Marina Lessig selbst, fließend Französisch sprach und in Deutschland so gerne seinen Master in Financial Studies beenden wollte. "Hätte ich ihn unter anderen Umständen kennen gelernt, wären wir wahrscheinlich Freunde geworden und abends ein Bierchen trinken gegangen." Doch es waren ganz besondere Umstände vor einem Jahr am Münchner Hauptbahnhof, als die heute 27 Jahre alte ehrenamtliche Helferin und der junge Mann sich trafen, damals, als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Tausende in Ungarn gestrandete Flüchtlinge unbürokratisch ins Land kommen ließ. Eine Ausnahmesituation. "An den ersten September 2015 kann ich mich gut erinnern", sagt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). "An jenem Tag habe ich im Circus Krone die neuen städtischen Auszubildenden begrüßt. Anschließend bin ich zum Hauptbahnhof gefahren und dann auch gleich vor Ort geblieben." Allein in rund zwei Wochen kamen damals 75 000 Asylsuchende am Münchner Hauptbahnhof an. Den Rekord vermeldete die Regierung von Oberbayern am 12. September mit 13 000 Ankommenden an nur einem einzigen Tag.

Die Bilder vom Gleis 26 gingen um die Welt

Heute sind die Bilder vom Gleis 26, die damals um die Welt gingen, Zeitgeschichte, eingegangen in das kollektive Gedächtnis nicht nur der Münchner. Nur noch wenige Flüchtlinge kommen heute am Bahnhof an. Fünf oder sechs am Tag seien es vielleicht, schätzt ein Sprecher der Münchner Polizeipräsidiums. Im Bahnhofsviertel ist längst der Alltag zurückgekehrt - auch wenn die Polizei sagt, es gebe inzwischen ein "größeres Sicherheitsbedürfnis" der Menschen, die sich am Bahnhof aufhalten. "Man merkt gar nichts mehr", sagt der 19-jährige Michael Holder, dessen Vater das Unternehmen "Radius Tours" betreibt. Er arbeitet direkt vor der Halle, in der die ankommenden Flüchtlinge sich damals versammelten, bevor sie in eine Unterkunft gebracht wurden, hat alles hautnah mitbekommen. "Jeder wollte helfen", erinnert er sich. Die große Hilfsbereitschaft der Münchner war es, die aus der bayerischen Landeshauptstadt die Hauptstadt der Willkommenskultur machte. So viele Helfer boten sich an, dass einige sogar weggeschickt werden mussten, erinnert sich Lessig. Heute sitzt sie im neu eröffneten "Freiwilligen-Laden" des im Januar gegründeten Vereins "Münchner Freiwillige - Wir helfen e.V." und überlegt, wie sie Freiwillige finden kann, die sich heute und langfristig engagieren wollen. "Jetzt ist ein Ehrenamt gefragt, wo es Konstanz und Beziehungsarbeit braucht."

Spielplatzpaten dringend gesucht

Sie sucht zum Beispiel Spielplatzpaten, die Mütter aus Syrien oder dem Irak und ihre Kinder mit auf den Spielplatz nehmen. Die Integration der Frauen sei besonders wichtig, sagt Lessig. "Das haben wir bei der letzten Generation von Einwanderern vergessen. Wir müssen sie aus den Wohnungen holen." Derzeit sind nach Angaben der Regierung von Oberbayern in den Aufnahmeeinrichtungen in München und Oberbayern bis zu 6000 Asylbewerber untergebracht. In den staatlichen Gemeinschaftsunterkünften sind es über 3000 Asylbewerber. Dazu kommen rund 18 000 Asylbewerber, die in dezentralen Unterkünften untergebracht sind. Ausgerechnet im Münchner Bahnhofsviertel, wo so viele zum ersten Mal den Fuß auf deutschen Boden setzten, ist davon kaum etwas zu spüren. Unterkünfte gebe es dort nicht, sagt Fritz Wickenhäuser, Vorsitzender des Stadteilvereins Südliches Bahnhofsviertel. Auch an der "Arbeiterstrich" geschimpften Straßenecke, an der Männer aus Bulgarien und Rumänien sich als Tagelöhner andienen, sei nichts davon zu merken, dass ein paar Meter weiter vor einem Jahr so viele Flüchtlinge ankamen. Das Viertel ist ein "Multi-Kulti-Viertel im besten Sinne", wie Wickenhäuser sagt. Dort gibt es kleine türkische Läden, Dönerbuden, Lebensmittelgeschäfte und vor Weihnachten stellen alle Anwohner und Geschäftsleute zusammen einen Weihnachtsbaum auf, egal, welcher Religion sie angehören. Wickenhäuser berichtet von einer Aktion, bei der junge Türkinnen im Dönerladen auf ihren Geigen Mozart spielten. Ein Modellviertel könnte es sein für die große Aufgabe Integration, der sich nun das ganze Land stellen muss. "Man muss den Menschen hier die Chance geben, dass sie das Leben gemeinsam gestalten", sagt Wickenhäuser und zitiert seinen türkischen Nachbarn: "Integration kennen wir nicht. Wir leben miteinander." (Britta Schultejans, dpa) Foto (dpa): Die ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins "Münchner Freiwillige - wir helfen", Marina Lessig,  vor der Geschäftsstelle des Vereins in München. Hintergrund: Hotspots in München nach der Grenzöffnung  Die überraschende Ankunft von über 15 000 Menschen stellte die bayerische Landeshauptstadt am ersten Septemberwochenende vergangenen Jahres vor eine logistische Herausforderung. Noch am Freitag war mit einer eher geringen Zahl ankommender Flüchtlinge gerechnet worden. An diesen Orten kristallisierte sich der Ansturm in München: - Hauptbahnhof: Der erste Zug mit rund 180 Flüchtlingen aus Salzburg kam am Samstagvormittag am Hauptbahnhof an. Rettungskräfte sperrten den nördlichen Bahnhofsflügel und richteten dort und auf dem Vorplatz provisorische Stationen zur medizinischen Untersuchung ein. Allein am Samstag erreichten 26 Züge mit 6900 Menschen München. Ehrenamtliche und Passanten begrüßten die Flüchtlinge mit Beifall. - Lagerhalle Richelstraße: Um zu verhindern, dass sich die Ankommenden am Hauptbahnhof stauen, belegten die Behörden kurzfristig eine leerstehende Bahn-Lagerhalle zwei S-Bahn-Stationen vom Hauptbahnhof entfernt. Mit einem Sonderzug der S-Bahn wurden die Flüchtlinge vom Hauptbahnhof dorthin gebracht. Registriert wurden sie in dieser "Drehscheibe" für die Weiterverteilung nicht - das sollte an ihren endgültigen Ankunftsorten geschehen. - Messegelände: Um irgendwie Übernachtungsmöglichkeiten für die ankommenden Menschen zu schaffen, wurden zunächst in zwei, dann in drei Messehallen im Münchner Osten tausende Feldbetten gebracht. 4000 Menschen übernachteten dort. Zahlreiche Freiwillige kamen spontan, um zu helfen. "Die Ehrenamtlichen machen alles. Wenn das nicht wäre, wäre Land unter", sagte eine Helferin des Bayerischen Roten Kreuzes. - Eden Hotel Wolff: In dem Hotel am Hauptbahnhof gaben die Behörden alle paar Stunden Pressekonferenzen, um die Journalisten zu informieren, die teilweise aus der ganzen Welt nach München gekommen waren. Regierungspräsident Christoph Hillenbrand prägte dort den Satz "Bayern, München und Deutschland leuchtet". (dpa)

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