Politik

Rettungskräfte bei einem Unfall am Bahnübergang in Kellmünz. Nicht immer können sich Feuerwehr und Sanitäter unbehelligt um die Opfer kümmern. (Foto: dpa)

03.06.2016

Wenn Opfer schneller auf Youtube landen als im OP

Gaffer werden bei Unglücksfällen immer öfter zum Problem: Deshalb sollen jetzt Gesetze verschärft werden. Was sind die Ursachen des wachsenden Voyeurismus?

Ein strahlender Sonntagnachmittag am Schliersee. Aber ein Notfall trübt das Idyll. „Ein älterer Mann hat einen Kreislaufkollaps“, erzählt Notarzt Florian Meier. „Als wir hinkommen, stehen 20 Personen um den Mann herum – und filmen! Wir mussten die Gaffer erst mal beiseite drängen.“ Seit 24 Jahren ist Florian Meier für das bayerische Rote Kreuz (BRK) im Rettungsdienst. Er sagt: „So was hat es früher nicht so gegeben.“

Gaffer, Menschen, die Rettungskräfte und ihre Arbeit behindern, werden immer mehr zum Problem. Und oft bleibt es nicht beim Gaffen. Retter werden zunehmend angegriffen. Jetzt reagiert die Politik, die Strafen für Gaffer sollen verschärft werden. Niedersachsen und Berlin haben eine Gesetzesinitiative im Bundesrat auf den Weg gebracht. Wer Feuerwehr, Katastrophenschutz oder Rettungsdienst bei Unglücksfällen behindert, dem sollen Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe drohen.

Smartphones haben das Problem verschärft

Die Neuregelung sei nötig, sagt Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), er stößt auf Zustimmung von Rettern wie Florian Meier: „Neugier gab’s schon immer“, sagt der stellvertretende BRK-Landesarzt der Staatszeitung. „Aber vor ein paar Jahren haben die Leute noch gebührend Abstand gehalten. Heute ist die Hemmschwelle gesunken.“ Auch Leonhard Stärk, Landesgeschäftsführer des BRK, begrüßt den Vorstoß. „Jeden Tag bekommen wir Rückmeldungen unserer Helfer vor Ort, die behindert und in ihrer Arbeit gestört werden.“

Warum ist das so? Eine wichtige Rolle spielen die sozialen Medien – und Smartphones: „Seit jeder so ein Ding hat, wird hemmungslos gefilmt und draufgehalten“, sagt Thomas Bentele. Auch der Sprecher und Vize der Polizeiwerkschaft GdP in Bayern hält Gesetzesänderungen für sinnvoll. „Jeder scheint sich als Zeitzeuge zu sehen – und oft stehen auch kommerzielle Interessen dahinter.“

Als kürzlich in der Innenstadt von Mainz eine Frau unter die Straßenbahn geriet und ein Bein verlor, empörte sich der Polizeisprecher über die filmende und gaffende Menge: „Die Frau war schneller auf Youtube als auf dem OP-Tisch.“ Die Polizei in Hagen (NRW) sorgte im April für Aufsehen, als sie via Facebook der Menge nach einem Verkehrsunfall zurief: „Schämt Euch, Ihr Gaffer!“ Manche aus der Menge hatten versucht, das schwer verletzte Kind über eigens aufgestellte Sichtschutzwände hinweg zu filmen. Beobachter beklagen regelrechten „Katastrophen-Tourismus“. „Da wird nach einem Autobahn-Unfall auf der Gegenfahrbahn abgebremst“, berichtet Notarzt Meier. Es kam schon zu schweren Unfällen. „Anscheinend ist die Sensation wichtiger als das Schicksal des anderen.“

Konkret sieht die Bundesrats-Initiative vor, lückenhafte Gesetze zu ergänzen und zu verschärfen. Die bereits strafbare Zurschaustellung hilfloser Personen (bis zu zwei Jahren Haft, § 201a StGb) soll auf Tote ausgedehnt werden. Und ein neuer § 115-E StGb sanktioniert die Behinderung von Rettungskräften. Darunter fällt ausdrücklich das Sitzen- und Stehenbleiben am Unfallort.

Ins Netz gestellte Aufnahmen können bei der Identifizierung der Täter helfen

Die bayerische Staatsregierung begegnet dem Vorstoß in der Länderkammer grundsätzlich wohlwollend: „Es ist richtig, zu prüfen, wie wir die Opfer, aber auch die Rettungskräfte vor Ort besser vor Gaffern schützen können“, sagt Justizminister Siegfried Bausback (CSU) der BSZ.

Kommt man mit neuen, schärferen Gesetzen dem Problem bei? „Ich setze auf die Signalwirkung“, so GdP-Sprecher Bentele, der „ein kleines Aber“ anfügt. „Die Kollegen haben dann noch ein Gesetz umzusetzen, dazu haben die meisten Beamten in Notfällen gar keine Zeit.“ Die Verfolgung rücksichtsloser Voyeure „im Nachgang des Geschehens“ allerdings sei sinnvoll. Ins Netz gestellte Aufnahmen können bei der Identifizierung der Täter helfen.

Werden die Gesetze Abschreckung entwickeln? Nicht alle Fachleute sind überzeugt: „Wir leben in einer voyeuristischen Paparazzi-Gesellschaft“, sagt Diplom-Psychologe Louis Lewitan der BSZ. „Bilder helfen uns, Unfassbares, Grauenvolles zu begreifen.“ Gesetze könnten den Einsatzkräften helfen, Abstand herzustellen und ihre Arbeit zu tun. Aber: „Den Zeitgeist ändern sie nicht.“ Lewitan, Autor mehrerer Fachbücher über Stress, verweist auf die „ohnehin extrem stressige Situation der Helfer in Notfällen“. Gaffer und Behinderungen verstärken diesen Stress. Dafür seien die Helfer oft nicht ausreichend geschult.

Hartmut Ziebs, Vorsitzender des Deutschen Feuerwehrverbandes, sieht in der unguten Entwicklung auch Chancen: „In jedem Gaffer steckt ein Helfer.“ Auch Psychologe Lewitan glaubt, man könne durch gezielte Ansprache Zuschauer zu Verbündeten machen. Aber die Praxis ist ruppiger als die Theorie. „Es ist schon frustrierend, wenn man bei der Arbeit behindert wird und sich dabei noch jede Menge schlaue Kommentare anhören muss“, sagt Rettungsarzt Meier. Und dabei bleibt es oft nicht. BRK-Geschäftsführer Stärk berichtet von „verbalen und körperlichen Angriffen“ auf Rettungskräfte.
Thomas Bentele vom Polizeipräsidium München hat „Solidarisierungs-Aktionen“ und Befreiungsversuche erlebt, wenn die Kollegen einschreiten. Im März forderte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) „in jedem Fall Freiheitstrafen“ für die Angriffe auf Retter und Helfer. „Vielleicht“, sagt Leonhard Stärk vom Roten Kreuz , „hatten wir in Deutschland früher zu viel Respekt vor Uniformen. Heute haben wir eher zu wenig.“ (Matthias Maus)

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