Sexuelle Übergriffe und Gewalt: Fast täglich kommen derzeit neue Vorwürfe ans Licht. Was ist die Ursache der Enthüllungslawine, wie kann man übergriffiges Männerverhalten eindämmen, was kann der Gesetzgeber tun? Über diese und andere Fragen sprachen wir mit Inge Bell, Vizevorsitzende der deutschen Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes.
BSZ: Frau Bell, zurzeit geht es Schlag auf Schlag: der US-Filmproduzent Harvey Weinstein, der Schauspieler Kevin Spacey, drei britische und ein österreichischer Politiker – immer mehr sexuelle Übergriffigkeiten werden gemeldet. Warum gerade jetzt?
Inge Bell: Die Zeit ist einfach reif. Die Sensibilität, was sexuell übergriffiges Verhalten betrifft, nimmt deutlich zu. Dafür sehe ich verschiedene Ursachen: Da ist einmal die generelle Benachteiligung von Frauen, etwa bei den Themen Bezahlung oder Karrierechancen. Eine große Rolle spielt außerdem die wachsende Social-Media-Aktivität – über soziale Netzwerke können derlei Vorwürfe sehr schnell verbreitet werden. Auch die Vorkommnisse der Kölner Silvesternacht des Jahres 2015, als massenhaft sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen gemeldet wurden, haben die Sensibilität für das Thema erhöht. Genauso wie die Nein-heißt-Nein-Kampagne, die vergangenes Jahr in eine Rform des Sexualstrafrechts mündete. Ich glaube außerdem, dass auch Donald Trumps Prahlen mit sexuellen Übergriffen dazu beitrug, dass viele Frauen sagen: Jetzt reicht es!
BSZ: Es gab bereits vor vier Jahren die Kampagne „#Aufschrei“, ausgelöst von Vorwürfen einer Journalistin gegen den FDP-Politiker Rainer Brüderle. Aber die ist dann wieder erlahmt.
Bell: Das stimmt. Aber wegen vorgenannter Gründe bin ich zuversichtlich, dass die #me too-Kampagne nicht wieder ein medialer Rohrkrepierer wird.
BSZ: Sie erwähnten gerade Donald Trump. Wie kann es sein, dass in einem politisch so korrekten Land wie den USA ein Mann Präsident wird, der damit angíbt, dass er Frauen begrapscht?
Bell: Weil wir immer noch in patriarchalen Zeiten leben, in denen selbst ein proletenhaft agierender Mann mehr gilt als eine noch so brillante Frau. Es ist doch so: Ein Mann wird so lange für kompetent gehalten, bis das Gegenteil bewiesen ist, bei Frauen funktioniert es andersherum.
"Sexuelle Gewalt ist ein Tabuthema. Deshalb wird hier auch relativ wenig geforscht"
BSZ: Das Datenmaterial zu sexuellen Übergriffen ist spärlich. Mal heißt es, jede zweite Frau sei betroffen, mal liest man, das sei praktisch jeder Frau schon mal passiert. Von welcher Größenordnung gehen Sie aus?
Bell: In der Tat gibt es hierzu sehr wenig Studien. Einfach deshalb, weil das ein Tabuthema ist. Ich würde mir sehr wünschen, dass hier mehr geforscht wird.
BSZ: Was raten Sie betroffenen Frauen?
Bell: Ganz wichtig ist es, sich schon, bevor etwas vorfällt, zu überlegen: Wie verhalte ich mich in einer entsprechenden Situation? Wenn man das gedanklich durchspielt, ist man besser darauf vorbereitet, die Situation verliert den Schockmoment. Man könnte sich zum Beispiel vornehmen, ganz laut zu sagen: Nehmen Sie die Hand weg! Bei Vorkommnissen im Job: das Gespräch mit der Führungskraft suchen. Oder derjenigen über ihr. Oder zu einer Frauenbeauftragten oder Fachberatungsstelle gehen.
BSZ: Gelegentlich hört man Sätze wie diesen: Frauen, die sexuell belästigt werden, sind selbst schuld, sie müssen halt klare Grenzen setzen.
Bell: Das ist natürlich Unsinn. Einfach zu sagen, seid mutig und schlagfertig, ist nicht die Lösung. Männer müssen lernen, auf ihre Übergriffigkeit ganz zu verzichten.
"Ein Verbot sexistischer Werbung wäre mal ein Anfang"
BSZ: Wie? Braucht es strengere Gesetze?
Bell: Ja. Wir fordern ein Verbot sexistischer Werbung. Weil wir der Meinung sind, dass solche Werbung viele Männer und Jugendliche in ihrer Vorstellung, Mädchen und Frauen seien Sexualobjekte, bestärkt.
BSZ: Also keine Unterwäschewerbung mehr?
Bell: Doch, natürlich kann man für Unterwäsche werben, mit einer Frau, die Dessous oder einem Mann, der Unterhosen trägt. Das ist in der Regel nicht sexistisch, weil es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Produkt und dem jeweiligen Körper. Aber wenn man mit einer halbnackten Frau wirbt, und es geht um Autoreifen oder Technikprodukte, dann fehlt dieser Zusammenhang. Um solche Werbung geht es. In Städten wie Paris, Genf oder London ist das bereits verboten. Warum nicht bei uns? Wobei die Kommunen, wenn sie wollten, bereits jetzt handeln könnten: Deutsche Städte können sexistische Plakate durchaus verbieten, solche Plakate entfernen lassen und von dem werbenden Unternehmen ein Bußgeld verlangen. Aber sie tun es nicht.
BSZ: Sind weitere Gesetzesänderungen denkbar?
Bell: Natürlich könnte man im Fall von sexueller Gewalt auch über eine Beweislastumkehr nachdenken. Wenn es keine Zeugen gibt, ist es ja sehr schwer, so etwas zu beweisen. Man kann auch über anderes nachdenken – da sollten sich Juristen einfach mal Gedanken machen.
BSZ: In welchen Bereichen ist es besonders schlimm? Politik, Privatunternehmen, Behörden?
Bell:l In all den Bereichen, die Männedomänen sind. Und das sind die meisten. Also: Unternehmen, vor allem die Technikbranche, das Filmbusiness, Werbung, Politik. Weniger betroffen ist der psychosoziale Bereich, in dem vorwiegend Frauen arbeiten. Aber auch dazu gibt es keine belastbaren Studien.
BSZ: Wie steht Deutschland bei der Zahl der sexuellen Übergriffe im internationalen Vergleich da?
Bell: Jedenfalls besser als die USA und andere Länder. Wir haben immer schon eine vernünftigere Gleichstellungspolitik gemacht, und wir hatten die 68-er Revolution. Die hat Frauenrechte ja durchaus befördert. Die USA zum Beispiel hatten das nicht. Zudem gilt die Maxime „Rassismus schlägt Sexismus“. Was bedeutet: Ein rassistischer Vorwurf wiegt immer schwerer als ein sexistischer. Und die USA haben ein ernstes Rassismus-Problem.
BSZ: Das hat Deutschland inzwischen auch. Viele Menschen regt auf, dass männliche Flüchtlinge beim Thema sexuelle Übergriffe unter Generalverdacht stehen.
Bell: Wir müssen aber darüber reden, dass viele Männer zu uns kommen mit einem streng bis extrem patriarchalischen Weltbild. Und das wird natürlich zu Problemen führen. Das zu verschweigen, wäre grob fahrlässig. Viele Männer aus muslimischen Ländern lernen leider: Eine Frau hat mir zu Diensten zu sein. Und dieses Frauenbild bringen sie mit zu uns. Darüber muss man sprechen, man muss aufklären und auch handeln.
BEZ: Wie?
Bell: Wir brauchen Integrationskurse der verschärften Art, und zwar von Anfang an, bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Keinesfalls darf man hier Kompromisse machen aus politischem Kalkül, indem man zögert, verharmlost oder schweigt. Wir in Deutschland haben uns die Frauenrechte hart erkämpft, wir dürfen nicht zulassen, dass das jetzt zurückgedreht wird. Frauenrechte sind Menschenrechte. Ich sage ganz klar: Menschen, die das konsequent anders sehen, dürfen nicht Teil unserer Gesellschaft werden.
(Interview: Waltraud Taschner)
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