Politik

Rund 180 bayerische Firmen unterhalten Niederlassungen oder Beteiligungen in der Türkei, darunter einige bedeutende Firmen wie MAN, Bosch, Knorr Bremse, Linde Gas, Osram und Knauf. (Foto: dpa)

24.03.2017

Wirtschaftswachstum ist in Gefahr

Der türkische Präsident Erdogan wütet immer extremer – das kann auch dem bayerisch-türkischen Handel schaden

Die politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland befinden sich auf einem historischen Tiefpunkt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat der deutschen Kanzlerin jüngst persönlich „Nazi-Methoden“ vorgeworfen. Anlass ist der Streit über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland, die für das von Erdogan geforderte Präsidialsystem in der Türkei werben wollten.

Die Türkei hat zwar angekündigt, künftig von solchen Wahlkampfauftritten abzusehen. Gleichzeitig hat Erdogan in dieser Woche diffuse Warnungen an die Europäer ausgesprochen: Wenn sie sich weiterhin „so verhielten“, würden sie „weltweit nicht mehr sicher sein“. Zudem gibt es keine Anzeichen, dass der in der Türkei inhaftierte deutsch-türkische Welt-Journalist Deniz Yücel bald aus dem Gefängnis kommt.
Grund genug für die Bundesregierung, nicht mehr rein rhetorisch zu reagieren. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat angekündigt, den jüngst noch geplanten Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur Türkei auf Eis zu legen. Solange Yücel nicht freigelassen werde, so Schäuble, sei es „außerordentlich schwierig“, daran weiterzuarbeiten.

Wirtschaftliche Sanktionen in jeglicher Form treffen die Türkei empfindlich. Ankara benötigt dringend Impulse, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das Wirtschaftswachstum hat sich innerhalb von nur zwei Jahren halbiert und wird laut Experten vorerst unterhalb von drei Prozent bleiben. „Kapital verlässt das Land. Die Auslandsinvestitionen sind im vergangenen Jahr um fast ein Drittel eingebrochen“, sagt Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK).

Wie steht’s unter diesen Umständen um die bayerisch-türkischen Beziehungen? In Bayern leben 200 000 Türken. Türkische Einwanderer sind allerdings laut einer aktuellen Studie der Hanns-Seidel-Stiftung in Bayern am schlechtesten integriert. Sie wiesen „die höchste Rückkehrabsicht sowie die engste Anbindung ans Mutterland auf und beteiligen sich häufig noch an den Wahlen im Herkunftsland“. Dessen ungeachtet gehört die Türkei zu den Top-20-Handelspartnern des Freistaats.

Wie geht’s nun weiter mit den bayerisch-türkischen Handelsbeziehungen?

Zunächst Erfreuliches berichtet Ebru Acar-Yeta, für EU-Projekte verantwortliche Managerin an der Istanbuler Repräsentanz des Freistaats: „Wir beobachten, dass sich türkische Unternehmen verstärkt für ein Engagement in Deutschland und Bayern interessieren, wenn es um Firmengründungen und neue Standorte geht.“ Diese Unternehmen kämen vor allem aus der Medizintechnik- und IT-Branche sowie aus der Textilindustrie.

Andrea Franz, Türkei-Referentin bei der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, verweist auf rund 1300 bayerische Unternehmen, die nach eigenen Angaben Geschäftsbeziehungen mit der Türkei unterhalten. In Oberbayern gebe es 75 türkische Personal-Unternehmen und sehr viele Kleingewerbetreibende. „Rund 180 bayerische Firmen unterhalten Niederlassungen oder Beteiligungen in der Türkei, darunter einige bedeutende Firmen wie MAN, Bosch, Knorr Bremse, Linde Gas, Osram und Knauf.“

Die Exporte aus Bayern in die Türkei haben im Jahr 2016 um 6,5 Prozent zugenommen. Hier geht es vor allem um Fahrzeuge und Fahrräder, Maschinen, Elektrotechnik, chemische Erzeugnisse sowie Metallwaren. Ähnlich verhält es sich bei den Importen: Auch hier stehen an erster Stelle Fahrzeuge und Fahrräder, gefolgt von Textilien und Bekleidung, Elektrotechnik, Nahrung, Maschinen und Metallwaren. Die Importe aus der Türkei in den Freistaat sind 2016 um 2,2 Prozent gestiegen. Das türkisch-bayerische Handelsvolumen liegt derzeit bei rund 6 Milliarden Euro; im Jahr 2009 lag es noch bei 2,9 Milliarden Euro.

Geht es um die Auswirkungen einer etwaigen Eiszeit in den Handelsbeziehungen zur Türkei, geben sich die Gesprächspartner zugeknöpft. Der Handelsattaché des türkischen Generalkonsulats antwortet nicht auf eine Anfrage der Staatszeitung, andere sind verreist. Große türkische Firmen mit Sitz in Bayern wie zum Beispiel der Haushaltselektronikproduzent Vestel oder das Big-Data-Unternehmen Natek reagieren nicht. Die offiziellen Ansprechpartner verweisen auf die nackten Zahlen.

Ankara erhält seit dem Jahr 2005 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt, um das Land fit für den EU-Beitritt zu machen. Allein 2013 hat die EU mehr als 900 Millionen Euro „Heranführungshilfen“ an Ankara überwiesen. Würden die Gesprächspartner zu dem Ergebnis kommen, dass der Beitritt der Türkei zur EU ob der politischen Differenzen in weite Ferne gerückt ist, sind auch diese Gelder in Gefahr.

Über lange Zeit ist dem türkischen Regierungschef ein Balanceakt gelungen. Dass die Wirtschaft wuchs und der Wohlstand immer Menschen zugute kam, half Erdogan, Wahl um Wahl zu gewinnen. Seit seinem Amtsantritt 2003 bis zum Putschversuch im Sommer 2016 war die Wirtschaftsleistung pro Kopf um mehr als 40 Prozent gestiegen. Erkauft wurde diese Entwicklung allerdings mit steigender Auslandsverschuldung, welche die Volkswirtschaft anfällig für Stimmungsumschwünge auf den Weltmärkten macht.

Und je mehr Erdogan die Freiheit in seinem Land einschränkt, desto mehr trüben sich die längerfristigen Wachstumsaussichten ein. Unfreiheit gefährdet den Wohlstand. Was in rohstoffreichen Ländern wie Russland oder den Golfstaaten noch funktionieren mag, nimmt komplexeren Volkswirtschaften ihre Lebensenergie. Eine innovative Wirtschaft ist ohne freie Meinungsäußerung schwerlich denkbar. Erdogan bewegt sich auf immer dünnerem Eis. (Jan Dermietzel)

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