Unser Bayern

War das angeordnete Erscheinen und leicht bekleidete Schlangestehen vor dem Röntgenapparat überhaupt mit der Würde des Menschen vereinbar? Auch diese Kritik hörte man in den Fünfzigerjahren. (Foto: Getty Images)

20.06.2014

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Mit staatlich angeordneten Reihenuntersuchungen sollte die Ausbreitung von Seuchen wie der TBC eingedämmt werden

Für die Deutschen der 1950er bis 1980er Jahre war das regelmäßige Durchleuchten der Lunge ein gewohnter Pflichtgang. Nachdem infolge der Kriegsjahre die Tuberkulose zu einer der häufigsten Sterbeursachen geworden war, hatte die Politik reagiert. Die seit 1938 nur für bestimmte Berufsgruppen vorgeschriebenen regelmäßigen Röntgenuntersuchungen der Lunge wurden Anfang der 1950er Jahren in allen Ländern der jungen Bundesrepublik Deutschland auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Mit der Reihenuntersuchung griffen die Behörden so auch in Bayern auf ein altbewährtes Instrument medizinischer Prävention zurück. Für bestimmte Bevölkerungs- und Berufsgruppen waren regelmäßige, standardisierte gesundheitliche Untersuchungen zu diesem Zeitpunkt nämlich schon lange üblich. Insbesondere wo Menschen auf engem Raum dicht aufeinander lebten, was die Seuchengefahr erhöhte, und wo zugleich körperliche Leistungsfähigkeit gefragt war, griff man auf die gründliche Untersuchung aller Betroffenen zurück. Bereits mit der Aufstellung stehender Heere Ende des 17. Jahrhunderts wurde staatlicherseits auf eine gewisse Tauglichkeit der Matrosen und Soldaten geachtet. Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1813 in Preußen und 1868 nach preußischem Muster in Bayern wurde im Rahmen der Musterung dann regelmäßig ein ganzer Bevölkerungsjahrgang – freilich nur der männlichen ansässigen Bevölkerung – auf gesundheitliche Beeinträchtigungen untersucht. Nach der Wehrordnung für das Königreich Bayern aus dem Jahr 1895 wurde jeder Militärpflichtige einer körperlichen Untersuchung unterworfen, „bei welcher auf Verlangen des Arztes völlige Entblößung des ganzen Körpers unter möglichster Berücksichtigung des Schamgefühls stattfinden muss". Während des Ersten Weltkrieges etablierten sich weitere regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen der Soldaten. Bis zu zweimal wöchentlich überprüften Militärärzte den körperlichen Zustand ihrer Schutzbefohlenen. Zusätzliche Untersuchungen fanden etwa vor Antritt und nach Ende eines Heimaturlaubes statt, wobei insbesondere nach Geschlechtskrankheiten gefahndet wurde. Einzelne Berufsgruppen am Rande der Gesellschaft, vor allem aus den Unterschichten, galten als besonders ruchbar und standen unter besonderer Kontrolle. Insbesondere galt dies für Prostituierte, die in den Städten spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts (in Nürnberg erstmals 1381 erwähnt) häufig öffentliche Frauenhäuser bewohnen mussten. In Bayreuth etwa existierte diese Institution in städtischer Hand seit 1486, in Augsburg bereits seit 1389. In Nürnberg, wie in anderen Städten im heutigen Bayern mussten sich die Prostituierten registrieren lassen und sich auf die Einhaltung bestimmter Regeln verpflichten. Dazu gehörten vor allem regelmäßige Untersuchungen auf Geschlechtskrankheiten. Mit Auftreten der Syphilis Ende des 15. Jahrhunderts wurden diese Kontrollen örtlich verschärft und – wie etwa 1497 in Nördlingen – angehalten, erkrankte Frauen aus den Bordellen zu weisen. Neben anderen ansteckenden Krankheiten stand dabei seit Mitte des 19. Jahrhunderts die auch als Schwindsucht bekannte Tuberkulose im Fokus. Die Krankheit konnte erst Anfang des 19. Jahrhunderts als eigenes Krankheitsbild identifiziert werden (siehe in Unser bayern, Dezember 2013). Bereits seit den 1870er Jahren war die Tuberkulose nicht zuletzt durch die Forschungsarbeiten des Münchner Pathologen Ludwig von Buhl als hochansteckende und durch Rinder und Milchprodukte übertragbare Infektionskrankheit entlarvt worden. 1879 wurden deshalb die Familien von Abdeckern, so genannten Wasenmeistern, die häufig mit toten und möglicherweise infizierten Rindern in Berührung kamen, per Ministerialerlass unter besondere Beobachtung gestellt. 1887 erließ das Ministerium des Innern oberpolizeiliche Vorschriften über den Handel mit der Milch kranker Kühe. Lehrer, Geistliche und Ärzte wurden mit Aufklärungsmaterial versorgt, um die Tuberkulosefalle möglichst frühzeitig zu erkennen. Parallel dazu entstanden in den 1890er Jahren in ganz Bayern eine Reihe von Lungenheilstätten, die teils heute noch existieren. Mit der bei der Münchner Poliklinik nach der Jahrhundertwende eingerichteten Fürsorgestelle für Lungenkranke war schließlich die Behörde eingerichtet worden, die in den folgenden Jahrzehnten den Kampf gegen die Tuberkulose in Bayern anführen sollte. Bei der Diagnose war man lange auf die Untersuchung äußerlicher Krankheitssymptome sowie seit Ende des 19 Jahrhunderts des Speichels und Bluts beschränkt. Erst die Entdeckung des Röntgenverfahrens eröffnete ganz neue Möglichkeiten für die Tuberkulosefürsorge. Die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen kam in Deutschland erstmals 1926 als regelmäßig wiederholte Reihenuntersuchung durch den Fabrikarzt Redecker aus Mühlheim an der Ruhr zur Tuberkulosefürsorge zum Einsatz und erfuhr seit dieser Zeit laufende Verfeinerungen. Es folgten 1928/29 Untersuchungen an Studenten und Bergarbeitern im Aachener-Stolberger Revier. In großem Rahmen eingesetzt wurde dieses Verfahren allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem in den Jahren 1945 bis 1947 ein rasanter Anstieg der Tuberkuloseinfektionen vor allem bei Kindern zu beobachten war. Betrug die Zahl der erkrankten Kinder bis 14 Jahre Ende 1946 in Bayern noch 9732, so stieg sie im nächsten halben Jahr auf 15 122. Die Bedingungen für die Ausbreitung der Lungenkrankheit waren im Nachkriegsdeutschland fast ideal. Die Überlebenden des Weltkriegs waren durch Entbehrungen ausgezehrt und häufig unterernährt. Wohnraum war knapp, vor allem in den zerbombten Städten. Man lebte zusammengedrängt, so dass eine infizierte Person viele weitere Mitbewohner gefährdete. Aber auch in den Lagern für Flüchtlinge und ,Displaced Persons‘ hatten mehrköpfige Familien nur wenige Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. Daneben machte man vor allem den unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen für die rasche Ausbreitung der Tuberkulose verantwortlich. Die Ansteckungsrate war folglich hoch, vor allem wenn Infektionsherde nicht rechtzeitig entdeckt werden konnten. Im März 1947 entschied die bayerische Staatskanzlei deshalb, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen mittels Röntgenschirmbildgeräten auf Lungenerkrankungen zu untersuchen. Teams von fünf bis sechs Personen wurden in jedem Regierungsbezirk angewiesen, Reihenuntersuchungen an Kindern, Flüchtlingen und Mitarbeitern größerer Betriebe durchzuführen. Auch die Überlebenden des NS-Regimes, die ehemals inhaftiert waren, hatten sich zur Durchleuchtung bei den Landesversicherungsanstalten bzw. den Gesundheitsämtern einzufinden. In den nächsten Jahren erfolgte die sukzessive Ausdehnung der Untersuchungen auf weitere als besonders gefährdet angesehene Berufs- und Bevölkerungsgruppen, wie Lehrer, Studenten, Ärzte und Polizeibeamte. Mit Verabschiedung des Gesetzes über die Röntgenreihenuntersuchungen vom 6. Juli 1953 wurde die regelmäßige Durchleuchtung der Lunge schließlich verpflichtend für die gesamte bayerische Bevölkerung eingeführt. Ausgenommen von der Röntgenpflicht waren lediglich all jene, die ein ärztliches Attest vorlegen konnten, die ohnehin beruflich einer regelmäßigen Kontrolle und Untersuchung unterzogen waren und ab 1959 auch schwangere Frauen. Wer der Aufforderung nicht Folge leistete, dem drohten bis zu 150 Mark Strafe oder bis zu sechs Wochen Haft... (Markus Schmalzl) Lesen Sie den vollständigen Beitrag in der Juni-Ausgabe von Unser Bayern (BSZ Nr. 25 vom 20. Juni) oder in dem Buch zur Serie "Aktenkundig":  Alte Zeiten, raue Sitten. Underdogs aus Bayerns Geschichte, herausgegeben von Christoph Bachmann und Karin Dütsch, 248 Seiten , 24,90 Euro)  > www.bayerische-staatszeitung.de/shop Abbildungen:
Auf Herz und Lunge untersucht zu werden, gehört sei jeher zur militärischen Musterung. (Foto: SZPhoto)

Nicht nur vor Geschlechtskrankheiten, sondern auch vor der Infektionsgefahr mit TBC warnten seit dem 19. Jahrhundert die Behörden Freier und Prostituierte. Auch für das junge Medium Film wurde das ein Thema. Das Plakat des Grafikers Josef Fenneker warb 1919 für ein „sozialhygienisches Filmwerk“ – die Macher waren der Regisseur und Produzent Richard Oswald und der Sexualforscher Magnus Hirschfeld. (Foto: Getty Images)

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