Unser Bayern

„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“, lautete der Slogan einer Impfkampagne, die 1962 in Bayern startete. In den anderen Bundesländern stockte die Aktion – der Impfstoff war rar geworden. (Foto: SZPhoto)

21.03.2014

Heimtückischer Virus

Bis in die Sechzigerjahre suchte die Kinderlähmung auch Bayern heim. Der Kalte Krieg behinderte schnelle Impfaktionen


"Auf einen Schluck ins Schulhaus": Mit dieser Überschrift lud die Süddeutsche Zeitung am 2. Februar 1962 nicht zu einer Weinprobe ein, sondern rief alle Einwohner Bayerns zwischen sechs Monaten und 40. Lebensjahr dazu auf, sich an der ersten Schluckimpfung gegen die Poliomyelitis, die gefürchtete Kinderlähmung zu beteiligen. In 16 Schulen allein in der Landeshauptstadt und in anderen Impflokalen standen 350 Ärzte und über 1000 Helfer bereit, um dieser wohlvorbereiteten Aktion zum Erfolg zu verhelfen. Ähnliche Maßnahmen waren in Nürnberg und Augsburg getroffen worden. Man wollte binnen kürzester Zeit mit aller Macht erreichen, die Kette von Epidemien der furchtbaren Krankheit zu unterbrechen, die alle paar Jahre für Angst und Unruhe gesorgt hatte. Für die Aktion waren sieben Millionen Mark vom Freistaat zur Verfügung gestellt worden; der Impfstoff kostete 1,7 Millionen Mark. Kinderlähmung: Kaum ein anderes Wort konnte Eltern damals so sehr in Panik versetzen wie dieses. Immer im Sommer, zur heißesten Zeit und wenn Ferien waren, dann, wenn die Kinder schwarenweise in Grünanlagen und Freibädern herumtollten, schlug die Krankheit zu. Sie schlich sich wie ein Schatten unbemerkt – war nur ein einziges Kind Opfer des Virus geworden, erkrankte bald die ganze Umgebung. Und da immer Tage und sogar Wochen vergingen, bis die ersten Symptome sichtbar wurden, waren bereits Spielkameraden und Freunde infiziert. An erster Stelle die Familie, dann der nähere Umkreis, schließlich der Wohnort des erkrankten Kindes; in Wellen breitete sich die Krankheit weiter aus. Heulte erst einmal die Sirene eines Krankenwagens, war schon jede Gegenmaßnahme vergeblich: Sperrung von Sportplätzen, das Badeverbot in Seen und Flüssen, die Absage von Wettbewerben. Zwar brach die eigentliche Krankheit nicht bei jedem Infizierten aus, manche hatten nur Symptome ähnlich einer Sommergrippe. Aber das Virus war tückisch. Sobald es das Rückenmark befallen hatte, war eine Lähmung des Nervensystems von Armen und Beinen oft unausweichlich. Die Kinder behielten schwache und dünne, oft extrem verdrehte Extremitäten ihr Leben lang. Noch mehr fürchtete man das Virus, wenn es die Muskeln des Brustkorbs so sehr schwächte, dass der Patient nicht mehr atmen konnte und erstickte. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es noch immer kein Gegenmittel. Dieses noch unerforschte Virus war seit der Frühzeit ein Begleiter des Menschen. Das schließt man aus einer Jahrtausende alten Abbildung eines ägyptischen Priesters auf einer Stele, der sich mit einem missgestalteten Fuß auf seinen Stock stützt. Aber die Krankheit blieb in den Jahrhunderten danach endemisch, immer auf einen kleinen Kreis von Erkrankten begrenzt. 1789 beschrieb ein englischer Arzt diese „Schwäche der unteren Extremitäten", führte sie aber auf „Zahnen und Fieber bei Kindern" zurück. 1840 gab es in Deutschland erste Mitteilungen über ein zunehmendes Auftreten der Erkrankung, 1921 wurde sie in Deutschland meldepflichtig. Zum Ende des 19. Jahrhunderts schlug die verheerende „Schwäche" immer häufiger zu, ohne dass die Ärzte inzwischen mehr darüber wussten. Dass es sich um eine Ansteckung handelte, war inzwischen bekannt. Aber wie wurde sie übertragen? Atmete man den Erreger durch die Nase ein, waren vielleicht Fliegen und Kakerlaken die Träger? Die Post geriet in Verdacht, auch Geldscheine, die durch viele Hände wandern. Noch immer wurden die meisten Krankheiten mit Schmutz assoziiert. In den USA wurden Immigranten beschuldigt, die eng zusammen in herunter gekommenen Vierteln hausten. 1916 hatte ein verheerender Ausbruch der Krnakheit in den Vereinigten Staaten 6000 Tote und 27 000 Behinderte hinterlassen, die meisten davon in New York. Nicht nur Arme, sondern auch Wohlhabende wurden Opfer der Krankheit. Aber neben Schweden waren die Vereinigten Staaten das Land mit der sorgfältigsten Hygiene. Wenn zunehmend Kinder aus den Mittelschichten befallen wurden: War es möglich, dass Sauberkeit den Erreger nicht abschreckte? In Frankreich erhielt die rätselhafte Seuche sogar den Beinamen „die Krankheit aus der Seifenschale". Alle paar Jahre schlug die Kinderlähmung nun in der Sommerhitze zu, und es schien, als wären die Menschen ihr hilflos ausgeliefert. Bis eines Tages im Jahr 1921 auch ein bereits erwachsener Mann in seinem Sommerurlaub erkrankte, der bereits Senator der USA war: Franklin D. Roosevelt. Denn die Polio war jetzt nicht mehr allein eine „Kinder-"lähmung, sie infizierte zunehmend auch Erwachsene. Sie verkrüppelte auch Roosevelts Beine, aber sie konnte seinen Widerstandswillen nicht brechen. Lediglich zwei Fotos zeigen ihn im Rollstuhl sitzend. Lieber ließ er sich mühsam von Helfern aus seinem Auto ziehen oder stützte sich auf zwei Krücken: Er wollte nie Opfer der Krankheit sein, sondern ihr Feind und Bekämpfer. Seiner Initiative verdankten die USA einen Feldzug gegen das Virus, der ihrem entschlossenen Eingreifen in den Ersten und den Zweiten Weltkrieg oder im Koreakrieg ähnelte. Eine eigene Gesellschaft, der „March of Dimes", überzog mit Massen von freiwilligen Helfern generalstabsmässig die USA, um Geld für die Erforschung und Bekämpfung des Virus zu sammeln. Diese riesige Kampagne, die erste ihrer Art, die 20 Millionen Dollar zusammen bekam, zeigte rasch Früchte: Ärzte forschten unter Hochdruck und erkannten, dass das Virus verwandt war mit dem Influenza-Erreger, und dass es drei Stämme gab, von denen der erste am häufigsten vor kam. Aber noch immer gab es kein Heilmittel. Deshalb musste eine andere Methode, die vorsorgliche Impfung, in Betracht gezogen werden. Es wurden sogar zwei unterschiedliche Methoden entwickelt. Jonas Edward Salk gelang es, auf Zellen von Affennieren den Erreger aus dem Rückenmark von Erkrankten zu züchten. Der dann abgetötete Virus sollte gespritzt werden, um im Körper das Immunsystem zu aktivieren und Antikörper hervor zu rufen. Salk erprobte seine Entdeckung zuerst an sich selbst und an seiner Familie, dann folgten geheime Impfungen in „Krüppelheimen", Waisenhäusern und Gefängnissen. Erst dann wagte er die großflächige Impfung. Es kam einer Sensation gleich, als er 1954 in einem Feldversuch mit dreimaliger Spritzung den Erfolg nachweisen konnte. Die Macht der Seuche schien damit gebrochen zu sein. Salk hatte einen Konkurrenten: Albert Bruce Sabin experimentierte nicht mit abgetöteten, sondern mit noch lebenden, aber abgeschwächten Erregern. Nach Salks Triumph konnte er in den USA den notwendigen Feldversuch über die Wirksamkeit seines Gegenmittels nicht mehr durchführen; deshalb wandte sich Sabin, Sohn eingewanderter Russen, mit seinen Ideen an die UdSSR. 1958 wurden zum ersten Mal in der Sowjetunion Millionen Menschen mit drei Tropfen einer gelblichen Flüssigkeit auf einem Zuckerstück oder in Bonbons versorgt, die DDR als folgsamer Satellitenstaat zog 1960 mit. Der Vorteil des Impfstoffes von Sabin war offensichtlich, denn nicht nur war er billiger zu erzeugen, es reichte eine einzige Einnahme, während der abgetötete Impfstoff drei bis vier Spritzen benötigte. 1952 trat zusammen mit einer Hitzewelle die Polio erneut in Deutschland auf und forderte 776 Todesopfer... (Andrea Hirner) Lesen Sie den vollständigen Beitrag im Märzheft von Unser Bayern (BSZ Nr 12 vom 21. März 2014) Abbildung: Kinder in Rollstühlen und in der Eisernen Lunge waren ein trauriger Anblick, den man sofort mit der Kinderlähmung verband. Indes stellte man bald fest, dass der Name der Erkrankung nicht richtig war: Auch Erwachsene erkrankten. (Foto: SZPhoto)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.