Wirtschaft

Wenn das Kind unruhig ist, greifen Eltern zur Medikation. (Foto: dpa)

27.11.2015

An angeblich kranken Kindern verdienen

Experten klagen an: Die Pharmaindustrie bereichert sich mit fragwürdigen Methoden auf Kosten der Gesundheit des Nachwuchses

Verhaltensauffällige Kinder sind ein großer Markt. Denn sie sind ja angeblich krank. Und damit sie (wieder) so werden, wie sie sein sollen, müssen sie zuerst gesund gemacht werden. Sagen zumindest die, die daran verdienen. Denn die neuen Krankheiten sind ein Milliardengeschäft. Milliardenbeträge, die in die Taschen der Pharmaindustrie wandern.“ Zu diesem Resümee gelangen Beate Frenkel und Astrid Randerath in ihrem Buch Die Kinderkrankmacher. Es basiert auf der Expertise zahlreicher Wissenschaftler und deren Publikationen. Sich wegzuträumen oder herumzuzappeln wären aus entwicklungspsychologischer Sicht ganz „normale“ Reaktionen von Kindern auf Situationen, in denen sie überfordert sind, schreiben die beiden Autorinnen.

Kinder so machen, wie wir sie haben wollen

Schon 1845 in dem Kinderbuchklassiker Der Struwwelpeter oder in Hans Guck-in-die-Luft sei ähnliches Verhalten beschrieben worden. Sie lassen den Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo zu Wort kommen, der sagt: „Nicht die Kinder haben sich verändert. Es sind die Erwachsenen. Wir sind nicht mehr bereit, Kinder so zu nehmen, wie sie sind, und glauben, sie mit Medikamenten so machen zu können, wie wir sie haben wollen.“ Ungestüm zu sein, sei einst ein Privileg der Jugend gewesen. Man sei gerade dabei, den Kindern dieses Privileg zu entziehen, führen die Autorinnen aus. Kräftemessen sei für die Entwicklung vor allem von Jungen sogar unerlässlich, gehöre zur Identitätsfindung und männlichen Entwicklung dazu.

Kinder stünden heute unter Dauerbeobachtung, und die Eltern gleich mit. Außerdem würden sich alle noch gegenseitig beobachten. Und das nicht unbedingt wohlwollend. Überbehütete Kinder von sogenannten „Helikopter-Eltern“ oder „Curling-Eltern“ hätten das gleiche Problem wie die unterbehüteten, vor den Computer geparkten Kinder. Sie seien nicht in der Lage, zu wachsen und zu reifen. Später könnten sie nicht mit Hierarchien, Geld oder Anweisungen klarkommen. Denn das Gehirn entwickle sich nutzungsabhängig.

„Das Kind muss ein Erfolg sein“, fasst Entwicklungsforscher Remo Largo zusammen. Normorientierte Fürsorge nenne sich das. Der Kampf um die Zukunft der Kinder würde in der Gegenwart ausgetragen. Im Wettbewerb um die sichersten Jobs würden Real- und Hauptschülern geringere Chancen eingeräumt, schreiben die Autorinnen Frenkel und Randerath.

So sind ADS und ADHS für den Kinderarzt Stephan Heinrich Nolte keine Krankheit, sondern ein Symptomkomplex, der mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat. Die heutige Gesellschaft hierzulande habe selbst ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und die Kinder seien das „Produkt“. In Zeiten der zunehmenden Digitalisierung würde man den Kindern nicht mehr zuhören. Frenkel und Randerath stellen fest, dass die Medikamente aus auffälligen Kindern bequeme Kinder machen und das wiederum mache die Pharmaindustrie reich. Denn am besten könne man Pillen verkaufen, indem man Krankheiten verkaufe. In den vergangenen 20 Jahren sei das Verschreiben von Medikamenten gegen ADHS um mehr als das 40-Fache gestiegen. Ein profitables Geschäft sei entstanden, seit 1995 die Verhaltensstörung zu einer für Ärzte abrechenbaren Krankheit umdefiniert wurde.

Zirka 700 000 ADHS- Fälle bei Kindern gebe es zurzeit in Deutschland laut dem Bremer Gesundheitsökonom Gerd Glaeske. Und das, obwohl Kinderarzt Stephan Heinrich Nolte erklärt, der viel beschriebene Stoffwechseleffekt bei ADHS sei noch gar nicht gefunden worden. Der Neurobiologe Francois Gonnon widerspricht als Wissenschaftler der Erblichkeit von ADHS nachdrücklich.

Patienten können nicht direkt umworben werden

Die Pharmaindustrie könne Patienten nicht direkt umwerben, merken die Autorinnen an. Also würde sie Ärzte als Referenten für Vorträge gewinnen, Professoren Geld für einen „Forschungs-Grant“ versprechen, Nachwuchswissenschaftler fördern, Kongresse und Studien finanzieren und nicht zuletzt Lehrer fortbilden und Infobroschüren sponsoren. Daraus entstünde ein Kreislauf. Die Lehrer würden sich auf die Ärzte verlassen, die Eltern auf Lehrer und Ärzte und aufgrund der steigenden Diagnosen könne dann dazu wieder geforscht werden. So würden Maßnahmen als Forschung deklariert, die im Grunde nichts anderes seien als Marketingmaßnahmen. Und: In Deutschland gebe es keine Veröffentlichungspflicht für wissenschaftliche Studien.

Der Bundesgerichtshof (BGH) stellte im März 2012 fest, „dass niedergelassene Vertragsärzte nach der gegenwärtigen Gesetzeslage bei korruptivem Verhalten wie der Annahme von Bestechungsgeldern strafrechtlich nicht verfolgt werden können.“ Das Gleiche gelte bei freiberuflichen Ärzten, Apothekern und bei als Lobbyisten für die Pharmaindustrie arbeitenden Politikern. Seitdem die Zulassung der Medikamente auf über 18-jährige im Jahr 2011 erweitert wurde, würden die ADHS-Diagnosen nun auch bei Erwachsenen rasant ansteigen. Der „wissenschaftliche Vater“ von ADHS, Leon Eisenberg, distanzierte sich 2009 von seiner eigenen Entdeckung: „ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.“

Aber die Pharmaindustrie würde schon am nächsten Verkaufsschlager arbeiten: Neuroleptika – entwickelt für Erwachsene zur Dämpfung schwerer Psychosen, wie Schizophrenie. Immer häufiger angewandt auch bei Kindern mit der Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ oder „Asperger“. Der Kinderarzt Stephan Heinrich Nolte warnt vor den Folgen: „Neuroleptikum heißt auf Deutsch Gehirnweichmacher. Das heißt: die Patienten gefügiger machend!“ Was früher noch „normal“ war, sei heute oft schon grenzwertig und behandlungsbedürftig, würde also als krankhaft bezeichnet, fahren Frenkel und Randerath fort. Charlotte Köttgen von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie fürchtet: „Dass es bald kein Kind mehr gibt, das nicht mit einer oder mehreren ,Störungen’ durchs Leben läuft, dass die Pharmaindustrie wach genug ist, um jedem dieser Kinder ein Medikament anzubieten, und dass es kaum Kinder geben wird, die nicht mit nebenwirkungsreichen Medikamenten durch die Schulzeit kommen können.“

Fettabsaugen als App für die Kleinen

Wen wundert es da noch, dass die Schönheitsindustrie den gleichen Weg einschlägt. Kinder als Zielgruppe der Industrie würden immer beliebter werden. Fettabsaugen als App für die Kleinen, Antibabypillen als Mittel der Wahl für makellose Haut und eine Hormontherapie für angeblich zu klein gewachsene Kinder. Verschwiegen würden schwere Risiken, Nebenwirkungen körperlicher sowie psychischer Art und Spätfolgen.

Im letzten Kapitel ihres Buches geben die Autorinnen Hoffnung. Sie stellen Menschen und Wege vor, Kinder fürs Leben stark zu machen – ohne Medikamente. Es gibt sie und es funktioniert.
Eine Kindheit in Deutschland. Optimiert? Pathologisiert? Kommerzialisiert? Ein sehr lesenswertes Buch, das dazu auffordern will, die Kinder wieder so zu nehmen, wie sie sind. Jedes Einzelne auf seine Art schön und wunderbar!
(Antje Schweinfurth)

(Beate Frenkel, Astrid Randerath, Die Kinderkrankmacher, Herder Verlag, 272 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3-4513-1198-7)

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