Wirtschaft

Weil sich viele EU-Bürger abgehängt fühlen, will man in Brüssel auf EU-Ebene jetzt gegensteuern. (Foto: dpa)

24.03.2017

Bayern ist gegen europäische Sozialpolitik

EU-Kommission reagiert auf EU-Skepsis der Bürger mit dem Entwurf einer „europäischen Säule sozialer Rechte“ – es geht unter anderem um Mindestlöhne

Die EU-Kommission will der EU-Skepsis der Bürger durch eine „soziale“ Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) begegnen. Sie glaubt ein soziales Mandat dafür zu haben. Sie will die WWU durch eine „Säule sozialer Rechte“ ergänzen und dadurch „fairer“ machen. Was damit genau gemeint ist, formulierte die EU-Zentrale bislang vorsichtig und vage: Sie solle ein „Kompass für die erneuerte Konvergenz innerhalb des Euro-Raums“ sein. Die bayerische Staatsregierung und die vbw – Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e. V. sind dagegen und befürchten, dass deutsche Steuerzahler dafür zur Kasse gebeten werden.

EU-Kommission kann Mindestanforderungen festlegen


Auf einer von der vbw in Brüssel abgehaltenen Konferenz taten beide gegenüber der EU-Kommission und EU-Parlamentariern ihre Bedenken kund. Am 26. April will die EU-Kommission ihren Entwurf für die sogenannte „europäische Säule sozialer Rechte“ vorlegen. Was genau die EU-Kommission vorschlagen wird, konnte der Vertreter der EU-Kommission nicht sagen. Es würden wohl nur Empfehlungen sein. Ein erster vorläufiger Entwurf vom März 2016 zeigt aber, in welche Richtung es geht: Mindestanforderungen wie ein garantiertes Existenzminimum, Mindestlöhne und Mindestlohnersatzleistungen für Arbeitslose im Euro-Raum.

Eigentlich ist die Sozialpolitik wie die Steuerpolitik Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Aber eindeutig abgegrenzt sind die Kompetenzen nicht, denn die EU kann im Rahmen der „geteilten Zuständigkeit“ (Artikel 4 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) tätig werden und Mindestanforderungen festlegen. Der deutsche Vertreter der EU-Kommission Max Uebe, zuständig in der Sozialabteilung der EU-Behörde für Beschäftigungsstrategie, beruhigte auf der vbw-Veranstaltung. „Ich versichere Ihnen: Das Subsidiaritätsprinzip wird nicht verletzt.“

Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten


Der vbw-Geschäftsführer Ivor Parvanov reagierte darauf skeptisch. Es fange mit Empfehlungen an und ende mit bindenden Rechtstexten: „Die EU darf wirklich nur das regeln, was auf der Ebene der Nationalstaaten nicht gelöst werden kann“, forderte er. „Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten. Historisch gewachsene, höchst unterschiedliche Sozialsysteme mit einer Vielzahl von einzelstaatlichen Regelungen können nicht über einen Kamm geschert werden.“ Es sei schon heute so, dass mehr als 70 Richtlinien und Verordnungen existieren, die Sozial- und Beschäftigungsstandards festlegen. „Hier darf nicht noch weiter draufgesattelt werden.“ Viel wichtiger sei es aus Sicht der vbw, die strukturellen Probleme Europas über eine konsequente Reform- und Wachstumspolitik zu beheben. Sonst käme es zu einer Sozial- und Transfer-Union. Man habe schon genug Probleme mit der Währungsunion, meinte er mit Verweis auf die Griechenland-Hilfen.

In der Tat sind die südlichen Euroländer (insbesondere Frankreich, Italien und Griechenland) reformfaul und reformieren ihre Arbeitsmärkte nur kaum und zögerlich, obwohl sie die EU-Kommission immer halbjährlich in ihrem so genannten „europäischen Semester“ dazu ermahnt. Außerdem wäre die soziale Säule gerade für jene Euro-Länder interessant, die sich ein hohes Sozialschutzniveau nicht leisten können. Laut Angaben der Statistikbehörde Eurostat lagen die staatlichen Sozialschutzausgaben 2014 im Euroraum bei durchschnittlich 8900 Euro pro Einwohner, in Deutschland bei rund 10 500 Euro. Unterdurchschnittlich gaben die alten südlichen Euroländer und die neuen osteuropäischen Euro-Länder aus: Italien 7987 Euro pro Kopf, Spanien 5661 Euro, Zypern 4735 Euro, Portugal 4470 Euro, Slowenien 4360 Euro, Griechenland 4242 Euro, Malta 3593 Euro, Slowakei 2592 Euro, Estland 2273 Euro, Litauen 1838 Euro und Lettland 1714 Euro. „Versetzen Sie sich in die Lage der kleinen Mitgliedstaaten“, sagte Max Uebe von der Sozialabteilung der EU-Kommission.

Keine überzogenen Erwartungen


Ähnlich wie Parvanov von der vbw äußerte sich Barbara Schretter, Leiterin der bayerischen Landesvertretung in Brüssel, stellvertretend für die bayerische Sozialministerin Emilia Müller, die nicht kommen konnte: „Keine überzogenen Erwartungen bezüglich der Sozialpolitik wecken und realistisch bleiben“, warnte sie. Die Soziale Marktwirtschaft sei nicht nur ein Modell für Deutschland, sondern ebenso für Europa. Dies dürfe aber nicht dazu führen, zentralistische Vorgaben für höchst unterschiedliche Systeme geben zu wollen. Sie sei stolz darauf, dass es ein Bayer, nämlich Ludwig Erhard (1897-1977) gewesen sei, der in Deutschland die soziale Marktwirtschaft eingeführt habe.

Dabei beruft sich die EU-Kommission gerade auf die soziale Marktwirtschaft: „Auftrag und Anliegen der EU im sozialen Bereich ist es, das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern (Artikel 3 EU-Vertrag) und auf die nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Schutz hinzuwirken“, heißt es im Bericht der EU-Kommission zum sozialen Besitzstand der EU vom März 2016. Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 habe gezeigt, dass die Sozialausgaben – und insbesondere die Leistungen bei Arbeitslosigkeit – als automatischer Stabilisator fungieren, der zur Widerstandsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft beitrage, heißt es in einem Arbeitspapier der EU-Kommission. Um eine wirksame makroökonomische Stabilisierung zu erreichen, müsse die Effektivität der Sozialausgaben und der sozialen Unterstützung für die Bevölkerung im Erwerbsalter gewährleistet werden. Aber wer soll dafür aufkommen? Die Jugendgarantie, auf die sich die EU-Mitgliedstaaten 2013 einigten, um arbeitslose Jugendliche von der Straße zu holen, kostet allein sechs Milliarden Euro.

Verschiedene Finanzierungsquellen


Im Gespräch ist eine so genannte „Fiskalkapazität“, die von den Sozialdemokraten im EU-Parlament gefordert wird. Gemeint sind Eigenmittel zur Finanzierung des Sozialschutzes in der Eurozone, gespeist aus verschiedenen Finanzierungsquellen, unter anderem den jährlichen Erträgen, die die Europäische Zentralbank als Folge ihrer geldpolitischen Transaktionen erwirtschaftet. Dafür ist auch die EU-Kommission. Finanzminister Schäuble ist dagegen. „Geld muss schon hinter der Säule stehen“, sagte Uebe von der EU-Kommission.

Maria João Rodrigues, portugiesische Europaabgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion (S & D) sowie Berichterstatterin zu dem Thema soziale Säule, verteidigte die Pläne der EU-Kommission. Man müsse insbesondere an die junge Generation denken. Zwei Sachen seien wichtig: Feste Arbeitsverträge und der Zugang zu einer Sozialversicherung. Die soziale Absicherung ist von Land zu Land verschieden großzügig. Derzeit koordinieren die EU-Mitgliedstaaten ihre Systeme der sozialen Sicherheit nur. Damit sollen Personen, die sich innerhalb der EU bewegen, keinerlei Einbußen an ihren Sozialversicherungsansprüchen im Heimatland erleiden. Begibt sich ein Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat, um dort Arbeitsleistungen zu erbringen, kann es sein, dass er dort bessere oder schlechtere Arbeitsbedingungen und einen besseren oder schlechteren Sozialschutz vorfindet. Das an sich ist nicht unvereinbar mit dem EU-Vertrag. Die EU-Verordnungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit koordinieren die verschiedenen Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten nur. Sie ersetzen die nationalen Systeme nicht durch ein europäisches.
Doch darauf könnte es hinauslaufen. Die aktuell amtierende EU-Kommissarin für Beschäftigung und Soziales, die Belgierin Marianne Thyssen, möchte die Arbeit des Ex-Kommissars Andor an der Einführung einer „Europäischen Arbeitslosenversicherung“ fortsetzen. Die EU-Kommission hatte bereits im Jahr 2014 Pläne dafür offenbart.

Gesellschaftsstrukturen und Arbeitsmodelle verändern sich


Die EU-Kommission rechtfertigt ihren Plan für eine soziale Säule mit den Trends im gesellschaftlichen Zusammenleben und in der Arbeitswelt. Die Gesellschafts- und Familienstrukturen und die Arbeitsmodelle würden sich verändern. Das Erwerbsleben werde länger und vielfältiger. Neue Arbeitsformen breiteten sich aus. Die Bildungsniveaus stiegen bei gleichzeitig weit verbreitetem Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage, was paradox sei. Angeführt werden auch die höhere Lebenserwartung, die demografische Alterung, der technologische Wandel und die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft.

Arbeitswelt 4.0: Die Zukunft der Arbeit ist digital. Die Digitalisierung krempelt die Arbeitsbeziehungen um. Das eröffnet neue Geschäftsmodelle, wie die amerikanischen Unternehmen Google, Amazon und der Taxidienst Uber demonstrierten, kann aber auch zu digitalem Tagelöhnertum führen. Die Digitalisierung verwischt die Trennlinie zwischen Arbeitnehmern und Selbstständigen, Waren und Dienstleistungen, Konsumenten und Produzenten. Das alles hält die EU-Kommission für eine europäische Aufgabe.

Immer mehr prekäre Beschäftigung


Uebe von der EU-Kommission: „Ich arbeite schon lange in meiner Abteilung. Vieles auf den Arbeitsmärkten hat sich geändert.“ Es gebe immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Unterauftragsverhältnisse und zunehmende soziale Ungleichheit. „Viele Bürger fühlen sich abgehängt.“
„Wenn wir die neuen (technischen) Möglichkeiten optimal nutzen und etwaige negative Auswirkungen mindern wollen, bedarf es großer Investitionen in Kompetenzen und eines Umdenkens (…). Die Veränderungen der Arbeitswelt erfordern auch neue soziale Rechte“, schrieb EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seinem Weißbuch zur Zukunft Europas vom 1. März 2017, in dem er fünf Szenarien für Europa im Jahre 2025 zur Diskussion stellte. Juncker wird für ein tieferes und sozialeres Europa eintreten und dementsprechend dürfte der Entwurf für die soziale Säule ausfallen, den er am 26. April vorstellt.

Es ist verständlich, das Juncker den „Laden“ (die EU) zusammenhalten will, indem er den EU-Binnenmarkt sozialer gestaltet. Bayern hält das indes für den falschen Weg. Die Stärkung der sozialen Dimension der EU würde Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft schwächen und folglich das Niveau der sozialen Sicherung in der EU eher senken als erhöhen, sagte vbw- Geschäftsführer Ivor Parvanov. Zwar bekenne sich die vbw zu Europa, aber nur zu einem „besseren“Europa und nicht zu „mehr“ Europa.
(Rainer Lütkehus)

INFO Jugendgarantie

Jugendgarantie: Sie ist die Zusage aller Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass allen jungen Menschen unter 25 Jahren binnen vier Monaten, nachdem sie arbeitslos geworden sind oder die Schule verlassen haben, eine hochwertige Arbeitsstelle oder Weiterbildungsmaßnahme oder ein hochwertiger Ausbildungs- beziehungsweise Praktikumsplatz angeboten wird.

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