Wirtschaft

Besorgt blickt Bertram Brossardt auf so manche Entwicklung hierzulande. (Foto: dpa)

23.09.2016

„Deutschland ist ein Stabilitätsanker in Europa“

Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, über den Rechtsruck, autonomes Fahren, Rentenpolitik und TTIP

Mangelnde Reformbereitschaft, Besitzstandswahrung und Egoismen prägen den gesellschaftlichen Alltag hierzulande. Angesichts dieser Konstellation stellt sich die Frage, ob Deutschland seine Zukunft verspielt. Darüber sprachen wir mit Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. BSZ: Herr Brossardt, angesichts des Rechtsrucks hierzulande fürchten einige Ökonomen, dass der Investitionsstandort Deutschland in Gefahr gerät. Wie sehen Sie das?
Brossardt: Ein Land braucht eine klare Linie und politische Handlungsfähigkeit. Beides ist nicht mehr sicher. Deutschland ist ein politischer Stabilitätsanker in Europa. Das ist eines unserer größten wirtschaftlichen Assets. Das muss erhalten bleiben.

BSZ: Erhalten bleiben ist ein gutes Stichwort: Lange wurde die Straßeninfrastruktur hierzulande vernachlässigt. Doch das Verkehrsaufkommen steigt beständig und die Prognosen gehen von noch mehr Verkehr auf Bayerns Straßen aus. Müssen die Projekte nicht noch schneller umgesetzt werden?
Brossardt: Zum ersten Mal ist die Infrastruktur bei der Bundespolitik ganz weit in den Vordergrund gerückt. Das war in den vorausgegangenen Legislaturperioden nicht so. Darum haben wir einen riesigen Aufholbedarf, wir rennen dem Verkehrszuwachs hinterher. Die vbw fordert seit Jahren deutlich höhere Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zur Beseitigung von Engpässen und für den bedarfsgerechten Ausbau. Es ist sehr erfreulich, dass nach dem Bundesverkehrswegeplan 2030 in den nächsten 15 Jahren rund 270 Milliarden Euro in die Instandhaltung sowie den Aus- und Neubau von Straßen, Schienen und Wasserwegen fließen sollen.

BSZ: Also muss mehr Gas gegeben werden?
Brossardt: Eine gesicherte Finanzierung ist ja nur ein Aspekt. Man braucht auch fertige Pläne, um Projekte umsetzen zu können. In Bayern wird das schon gut realisiert. Aber klar, es könnte noch schneller gehen. An der Autobahn München-Passau machen wir seit über 20 Jahren herum. München-Ulm ist gut in der Realisierung, aber auch München-Salzburg muss endlich dem Bedarf angepasst werden.

BSZ: Ist das für einen Exportweltmeister wie Bayern akzeptabel?
Brossardt: Eine gute und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist für eine Wirtschaft wie die bayerische mit ihrem hohen Exportanteil essenziell. Aber die Straße ist nicht alles. Der Freistaat als internationale Wirtschaftsdrehscheibe braucht auch die dritte Start- und Landebahn am Münchner Flughafen. Verbindungen in die ganze Welt sind genauso entscheidend für unsere exportorientierte Wirtschaft.

BSZ: Wie schnell sollte diese dritte Bahn realisiert sein?
Brossardt: Sie muss Anfang des nächsten Jahrzehnts fertig sein.

BSZ: Kann der Nürnberger Flughafen, wie einige meinen, für Entlastung sorgen, wenn die dritte Bahn nicht kommt?
Brossardt: Nein. Ein Luftverkehrsdrehkreuz wie München lebt von den Verbindungen, die es anbietet. Nürnberg muss ebenfalls wachsen, um die Bedarfe in Nordbayern abzudecken. Aber da ist man auf einem ganz guten Weg.

BSZ: Springen wir einmal zur Energiepolitik. Wie bewerten Sie diese?
Brossardt: Das Zieldreieck, bestehend aus wettbewerbsfähigem Preis, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit, ist immer noch nicht erreicht. Die Strompreisfrage wird seitens der Politik schlicht negiert. Aber die hohen Strompreise hierzulande sind ein deutlich negativer Standortfaktor. Das muss dringend gelöst werden.

BSZ: Bei den Leitungen ist alles ok?
Brossardt: Wir gehen davon aus, dass die Versorgungssicherheit auch über 2022 hinaus gewährleistet ist. Verzögert sich der Netzausbau, müssen Reservekraftwerke oder Netzreserven bereitstehen.

BSZ: Stichwort Umwelt.
Brossardt: Da ist die Lösung noch nicht gefunden worden, wie man die Klimaschutzziele erreichen kann. Klar ist, dass das Gebäude im Mittelpunkt steht. Angesichts dieser Erkenntnis ist es vollkommen unverständlich, warum steuerliche Abschreibungen für die energetische Sanierung auf Bundesebene nicht umgesetzt werden. Klar ist aber auch, dass das EEG mittelfristig weg muss. Denn es ist zur puren Subventionsmaschine geworden.

BSZ:
Beschäftigen wir uns einmal mit einem Technologiefeld, auf dem Deutschland noch nicht hinterherhinkt, dem autonomen Fahren. Sind Sie zufrieden mit der Entwicklung?
Brossardt: Das automatisierte Fahren wird kommen. Immer häufiger werden künftig Fahrzeuge mit einem hohen Automatisierungsgrad auf unseren Straßen unterwegs sein. Die höchste Stufe, das „autonome Fahren“, kann schon in den 2020er Jahren erreicht werden. Unsere Automobilhersteller und deren Zulieferer arbeiten derzeit intensiv an diesem Thema. Wir dürfen die Entwicklung nicht den US-amerikanischen Technologiefirmen überlassen. Wir müssen die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Das Testfeld auf der Autobahn A9 ist eingerichtet, weitere zum Beispiel bei Ingolstadt sollen hinzukommen. Aber eine Grundvoraussetzung fehlt noch.

BSZ: Welche?
Brossardt: Das 5G-Mobilfunknetz. Aber man treibt es gut voran. Weniger gut ist man bei den Rechtsfragen, aber auch da kommen jetzt die gesetzgeberischen Vorschläge.

BSZ: Was muss da geregelt werden?
Brossardt: Zum Beispiel die Haftung für technische Ausfälle bei der Datenübertragung. Herausforderungen sehe ich eher bei der Datensicherheit.

BSZ: Warum?
Brossardt: Weil ein autonom fahrendes Auto ständig Daten sendet und empfängt. Das muss in Einklang mit dem Recht auf Schutz der Privatsphäre gebracht werden. Regeln könnte man das mit der Anonymisierung personenbezogener Daten oder der Einwilligung des Einzelnen. So könnte man via Bordcomputer zum Beispiel ja oder nein sagen, ob das Auto Daten zur Werkstatt schicken soll, wenn eine Reparatur ansteht. Besonders geklärt werden muss die Verwertung der Daten im Rahmen von Straf- oder Schadensersatzverfahren etwa bei Unfällen, wenn Rückschlüsse auf das Fahrverhalten gezogen werden sollen.

BSZ: Werden die Menschen da mitspielen?
Brossardt: Die einzelnen Blöcke sind rechtlich lösbar. Aber wir brauchen hierfür ein hohes Maß an Transparenz und müssen den Bürger mitnehmen. Bei der kommerziellen Verwertung von Daten wird sich vieles über vertragliche Gestaltungen regeln lassen. Aber auch international muss für das autonome Fahren einiges geregelt werden.

BSZ:
Warum? Das ist doch ein nationales Thema.
Brossardt: Das Wiener Abkommen muss aktualisiert werden, damit man überhaupt autonom, das heißt ohne Eingreifen der Insassen fahren darf. Und eine EU-Vorschrift muss angepasst werden, denn diese erlaubt autonomes Fahren nur bis zu einer Geschwindigkeit von zehn Stundenkilometern.

BSZ: Was muss noch geregelt werden?
Brossardt: Zum Beispiel, wie man sich während der Fahrt, die das Auto selbstständig durchführt, verhalten darf. Kann ich Filme schauen oder mit dem Handy telefonieren, oder mache ich mich dann strafbar, weil ich fahrlässig handle?

BSZ: Begeben wir uns jetzt einmal ins Feld der Wissenschaft. Ist genügend Geld hierfür vorhanden und brauchen wir mehr Forschungsstätten?
Brossardt: Bayern ist in der Spitze und in der Breite bei allen Forschungsthemen gut vertreten. Die Ergebnisse werden in der Wirtschaft gut umgesetzt. Was jetzt ansteht, ist die regionalen Digitalisierungszentren zügig umzusetzen. Denn die Digitalisierung ist das Zukunftsthema und wir haben landesweit entsprechendes Potenzial. Gleichzeitig müssen wir das Disruptive, das mit der Digitalisierung einhergeht, besser unterstützen.

BSZ: Was heißt das?
Brossardt: Wir müssen Existenzgründungen weiter vorantreiben. In München und Nürnberg muss die Gründerintensität erhöht und im Rest des Landes angeschoben werden.

BSZ: Für gute Forschung braucht man entsprechend kluge Köpfe. Kann sich Bayern da die Dauerbaustelle Gymnasium mit dem ewigen Hin- und Her zwischen G8 und G9 leisten?
Brossardt: Wir bei der vbw waren und sind für das G8 als Regelangebot. Eine Verlängerung der Lernzeit kann dann gut sein, wenn es um stärkeres individuelles Lernen und Fördern geht. Mit dem bayerischen Schulsystem sind wir weitgehend zufrieden. Die Nichterfolgsquote liegt heute schon unter fünf Prozent. Dennoch muss diese Rate weiter runter. BSZ: Viele Betriebe klagen, dass der Nachwuchs Probleme mit Mathe und Deutsch hat. Wie sehen Sie das?
Brossardt: Klar gibt es hier immer wieder Klagen. Sprach- und Mathematikkenntnisse sind zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Berufsstart. Hier gibt es Defizite, bei allen Schularten. Es kann nicht sein, dass wir diese Defizite hinterher in der Ausbildung beheben. Denn das kostet Zeit, die für die eigentlichen Ausbildungsinhalte nicht zur Verfügung steht. Ein guter Weg, schwächere Jugendliche und junge Erwachsene zu befähigen, eine Ausbildung erfolgreich zu absolvieren, ist die sogenannte assistierte Ausbildung.

BSZ: Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Brossardt: Das ist ein Projekt unserer Verbände, das sogar von der Bundesagentur für Arbeit jetzt für ganz Deutschland übernommen worden ist. Bei der assistierten Ausbildung werden leistungsschwächere Auszubildende beispielsweise durch Nachhilfe oder Beratung unterstützt.

BSZ: Springen wir jetzt einmal vom Beginn des Erwerbslebens zu dessen Ende. Wie bewerten Sie die Rente mit 63?
Brossardt: Wir leben über unsere Verhältnisse. Die Rente mit 63 ist ein demografischer und finanzieller Fehler, für den kommende Generationen geradestehen müssen. Es zeigt aber auch deutlich, dass die Bundespolitik die demografische Entwicklung hierzulande nicht wirklich ernstnimmt.

BSZ: Was muss also passieren?
Brossardt: Die gesetzliche Rente muss dauerhaft stabilisiert werden. Das geht am besten mit viel und dauerhafter Beschäftigung. Voraussetzung hierfür ist eine gute Wirtschaftspolitik. Aber jetzt geht es erst einmal darum, die Rente mit 67 komplett umzusetzen.

BSZ: Ist das alles?
Brossardt: Nein. In der zweiten Säule der Alterssicherung muss die betriebliche Altersvorsorge attraktiver werden. Hierfür sollte der Bund die steuerliche Absetzbarkeit der finanziellen Aufwendungen von vier auf acht Prozent erhöhen. Während die betriebliche Altersvorsorge in den meisten Bereichen gut verbreitet ist, besteht bei kleinen und mittleren Unternehmen sowie bei Geringverdienern noch Nachholbedarf. Das muss gelöst werden, um Altersarmut vorzubeugen. Insgesamt muss die betriebliche Altersvorsorge von der überbordenden Bürokratie befreit und die Arbeitgeber müssen enthaftet werden. Denn es kann nicht sein, dass die Unternehmen für das niedrige Zinsumfeld die Zeche zahlen.

BSZ: Und wie sieht es mit der privaten Vorsorge aus?
Brossardt: In der dritten Säule muss die Riester-Rente deutlich vereinfacht werden. Zwar gibt es bereits 16,5 Millionen derartige Verträge, aber das ist noch zu wenig. Die Grundförderung muss erhöht werden, weil sie seit zehn Jahren nicht angepasst wurde. Das Kontraproduktivste an der Riester-Rente ist aber deren Anrechenbarkeit auf die Grundsicherung. Das muss dringend korrigiert werden.

BSZ: Zum Abschluss betrachten wir noch TTIP, das geplante Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit den USA. Wie bewerten Sie die aktuelle politische Gemengelage?
Brossardt: Die öffentliche Diskussion um TTIP ist wieder emotionaler und irrationaler geworden. Von der Politik erwarten wir, dass sie sich mit aller Kraft für den Abschluss dieses Abkommens einsetzt, das gilt vor allem für den Bundeswirtschaftsminister. Denn Unternehmen und Beschäftigte profitieren vom Abbau der Handelshemmnisse. Für Bayern hat TTIP eine besondere Bedeutung, denn die USA sind unser wichtigster Handelspartner. 12,7 Prozent unserer Exporte gehen dorthin, 7,5 Prozent unserer Importe kommen von dort.

BSZ: Aber die Verhandlungen sind schwierig.
Brossardt: Harte Verhandlungen in so einer Angelegenheit sind völlig normal, aber wir brauchen TTIP. Es ist eine historische Chance für die EU, die Regeln des künftigen Welthandels mitzugestalten. Wenn TTIP nicht kommt, werden andere die Normen und Produktstandards setzen, und wir müssen uns darauf einstellen. TTIP ist die beste Art, unser Wirtschaften für die Zukunft abzusichern.
(Interview: Ralph Schweinfurth)

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