Wirtschaft

Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg gerät immer wieder in die Kritik. (Foto: dpa)

11.05.2018

Die Tücken der Statistik

Warum die Diskussion über die Gefahren der Digitalisierung Kaffeesatzleserei bleibt

Das eine Bein hängt im kochenden Wasser, das andere im Eiskübel. Statistisch gesehen ergibt das eine angenehme Durchschnittstemperatur. Die denkbaren Unzulänglichkeiten, ob gewollt oder dem Thema geschuldet, gelten für fast alle Erhebungen. So auch für die Monatsberichte der Agentur für Arbeit. Eine möglichst präzise Darstellung wäre jedoch wünschenswert, um die Weichen für die Zukunft zu stellen und die Geldvernichtung zu verhindern. Gerade vor dem Hintergrund der modischen Diskussion über die Digitalisierung und ihre Folgen wären verlässliche Daten unverzichtbar.

Zehlenerhebung ist eine Momentaufnahme


Doch dies ist bei allen Computern in Nürnberg nicht annähernd möglich, denn der Arbeitsmarkt hat sich mittlerweile in eine unübersehbare Fülle von Berufen mit weitgehenden Spezialisierungen aufgesplittert. Und die allgemeine Konjunkturlage verändert sich so schnell, dass kaum mehr gesagt werden kann, welcher hochqualifizierte Beruf in zwei Jahren tatsächlich gefragt, und welcher heute angesagte Job überbesetzt ist. Grundsätzlich gilt: Die Statistik ist eine Momentaufnahme. Im Wesentlichen werden nur die Personen als arbeitslos gemeldet, die auch Leistungen der Agentur erhalten. Der mammutartige Fortbildungsbereich, der Milliarden für fragwürdige Förderungen hinauswirft, ist schon einmal aus der Erwerbslosen-Berechnung ausgenommen. Dies geht zurück auf den Höhepunkt der Beschäftigungskrise, als man die Arbeitslosenzahlen möglichst niedrig halten wollte. Auch die gesamte Palette der Beihilfeempfänger wurde damals von der Bundesregierung praktisch weggezaubert.

Ferner fehlen alle, die gerne wieder arbeiten würden, aber keine Chancen sehen, und auf die Zuschüsse der Agentur verzichten. So kennt die Wirtschaft und die Politik keine verlässlichen Trends, in welche Richtung sich die Digitalisierung entwickelt. Und der Diskussion über Horrorszenarien ist breiter Raum gegeben. Man erinnere sich nur an die Einführung der PCs in den Büros. Da wurde die Verlagerung der Heimarbeit hochgejubelt, die papierlose Zeit als sichere Größe angegeben und eine Erwerbslosigkeit von drei Millionen als fast schon gesichert in die Welt gesetzt. Die Zahl kam zustande, weil man aus einer regional gegriffenen Szenerie die Einführung des Fax-Gerätes auf die Gesamtwirtschaft hochgerechnet hatte.

Nicht anders verhält es sich mit den offenen Stellen. Nur ein Bruchteil der freien Arbeitsplätze ist der Agentur bekannt. Der Großteil wird nämlich ausschließlich innerbetrieblich angeboten und besetzt. Manche Branchen narren die Nürnberger Beamten, weil sie gerade in der Bauwirtschaft bei der Suche nach einer Fachkraft den Bedarf gleich auf zehn freie Plätze hochschrauben, um zumindest den einen Spezialisten zu finden.

Ganz traurig schaut es mit der Registrierung der Flüchtlinge aus. Der angebliche Wert für die deutsche Wirtschaft vor dem Hintergrund eines Fachkräftemangels in wenigen Sektoren kann durch sie nicht erbracht werden. Hier wird mit einem politisch vordergründigen Argument hantiert. Ebenso unsicher ist die Zahl der Beschäftigten, die aufgrund der asozialen Mieten in den Großstädten mindestens zwei Berufe wahrnehmen müssen, zumindest auf der Basis einer Teilzeit oder unter dem Decknamen der Nachbarschaftshilfe. Dieses Potenzial, das in die Millionen geht, wäre für die Ergänzung des Bildes notwendig. Da es bei der Bundesagentur keine Hellseher gibt, können sie heute nicht voraussehen, welche Folgen die weitere Entwicklung der Weltkonjunktur hat.

Bildungsexperten warnen vor zu vielen Betriebswirten


Damit hängt jedoch der Arbeitsmarkt unmittelbar zusammen. Bildungsexperten warnen bereits, dass wir beispielsweise zu viele Betriebswirte ausbilden, ein Luxus für den Staat und die Beitragszahler. Es wäre fatal, aus dieser naturgegebenen Fehlerquelle der Agentur einen Vorwurf zu machen. Sie hat sich an die Gesetze zu halten, die der politischen Schönfärberei geschuldet sind.

Ein ungemein fragwürdiger Bereich ergibt sich aus der Aufgabenstellung, Arbeitslose für eine geeignete Tätigkeit umzuschulen. Man könnte ein trauriges Buch mit Beispielen füllen, wie zwanghaft diese Maßnahmen erfolgen. Nur ein Beispiel: Zwei Kleinunternehmer, die Konkurs anmelden mussten, wurden von der Nürnberger Agentur in einen Fortbildungskurs delegiert, der sie zu Unternehmensberatern umschulen sollte. Doch diese Kurse werden gerne auch von Ablegern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände veranstaltet, die zusammen mit der Bundesregierung in Nürnberg das Sagen haben. Sie müssten sich praktisch selbst auflösen, eine utopische Vorstellung. Deshalb wäre es wichtig, in der jetzigen Debatte mit der Angstmacherei etwas zu bremsen und zuzugeben, dass bei einem hoffentlich soliden Wachstum mit kräftiger Entwicklung der weiteren Digitalisierung neue Berufsfelder entstehen werden. Und jetzt könnte man bereits beginnen, Weichen richtig zu stellen, etwa den Kampf gegen Arbeitslosigkeit zu fördern. Ein breites Aufgabenfeld für die Bundesregierung, die hier allerdings gewaltigen Mut braucht und auf Argumente der Gewerkschaften hört.

Wie wichtig eine solche vorausschauende Politik wäre, zeigt ein Beispiel aus den 1950er Jahren. Einer der Oberdirektoren in Nürnberg erkannte damals die Chancen der bargeldlosen Überweisung von Leistungen. Das in der Weimarer Republik übliche „Stempeln“ hat sicher mit zum Erfolg der Nazis geführt. In den kilometerlangen Schlangen vor den Arbeitsämtern ergab sich ein ideales Feld für Propaganda und Hetze gegen die Reichsregierung. Damals, also in den 60er Jahren, hätte man die Abschaffung der herkömmlichen Auszahlung des Arbeitslosengeldes, die ein persönliches Erscheinen vor dem Amt regelmäßig erzwungen hat, nicht gebraucht. Es herrschte absolute Vollbeschäftigung. Der Beamte sah jedoch schon erste Anzeichen für eine Krise und Präsident Josef Stingl setzte gegen manche Kritik die bargeldlose Erstattung durch.

Man kann von moderner Sklaverei sprechen


Wer nach Alternativen sucht, könnte die Gelegenheit nutzen, den Gedanken der sozialen Marktwirtschaft aufzugreifen. Wer die Arbeit in Burger-Ketten oder bei den zunehmenden Paketdiensten beobachtet, kann getrost von einer modernen Sklaverei sprechen. Eine menschenwürdige Reglung der Lohnsysteme und Arbeitsbedingungen würde schlagartig zu einem erheblichen Mehrbedarf an Arbeitskräften führen und der drohenden Aufsplitterung der Gesellschaft und der Gefährdung der Demokratie entgegenwirken.
(Karl Jörg Wohlhüter)

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