Wirtschaft

12.07.2013

Franken im Ohr

Rede von Oberfrankens Bezirksheimatpfleger Prof. Dr. Günter Dippold zum "Tag der Franken 2013"

Wie klingt Franken? Es ist das herbstliche Rascheln des Buchenlaubs im Steigerwald, das Zirpen der Grillen im sommerabendlichen Weinberg und das Rauschen der A 9, wenn spät am Freitag die Wochenendpendler heimfahren. Franken: Es ist das mächtige Geläut des Bamberger Doms, das Carillon am Aschaffenburger Schloss. Und das Scheppern der Abfüllanlage einer Bayreuther Brauerei. Franken: Es sind die Fanfaren vom Königsbau des Festspielhauses, Streicher im Ebracher Kaisersaal und Kerwamusik an der Limmersdorfer Tanzlinde. Und die Trommeln des Coburger Samba- und des Würzburger Afrikafestivals. Franken: Es ist die vielköpfige Wallfahrt, die mit „Sei gelobt und hochgepriesen“ Gößweinstein zustrebt. Es ist die Kirchengemeinde, deren Posaunenchor „Ein feste Burg“ anstimmt. Es ist aber bestimmt auch der durchdringende Ton des Schofar an Jom-Kippur. Und es ist wohl auch das freitägliche Lob Allahs. Wie klingen die Franken? Viele reden Fränkisch. Nicht alle. Franken in Wunsiedel führen schwere nordbairische Diphthonge im Mund, Franken in Ludwigsstadt haben thüringischen Zungenschlag, Franken am Untermain, im rheinfränkischen Sprachraum daheim, klingen in den Ohren anderer Franken eher hessisch. Franken in Schopfloch unterhalten sich im fremdartigen Lachoudisch. Und nicht wenige Franken hören sich ganz anders an. Manche hochdeutsch (oder was sie dafür halten). Viele haben den Dialekt der ersten Heimat nie abgelegt, so dass man diesen Franken ihre Herkunft aus Pommern, Schlesien, Böhmen noch anhört. Oder ihre Wurzeln in Italien und Griechenland. Franken, das ist ein buntes, wildes, fröhliches Durcheinander – wie könnte es anders sein, hier, in der Mitte Europas, hier, wo sich, um es mit Hans Max von Aufseß zu sagen, die Winde fangen?! Wie klingt Franken, wenn es um politische Inhalte geht? Dann ist Franken selten ein klangvolles Miteinander. Öfter ein wirres Nebeneinander. Häufig ein schrilles Gegeneinander. Der Klang Frankens ist dabei nicht laut, eher von verhaltenen Tönen bestimmt. Leise ist Franken, allzu leise. Franken ist oft nicht gut zu hören im Konzert des Freistaats Bayern . Kein Wunder. Wir sind wenige und werden weniger. Als vor 175 Jahren die heutigen Regierungsbezirke geformt wurden, da lebten von den 3,8 Millionen Staatsbürgern des rechtsrheinischen Bayern 18 Prozent in Oberbayern, 42 Prozent in Franken. Heute wohnen knapp 36 Prozent in Oberbayern, nur noch 33 Prozent in Ober-, Unter-, Mittelfranken. Tendenz dort steigend, hier weiter sinkend. Vor 175 Jahren hatte München kaum die siebenfache Einwohnerzahl von Bayreuth. Heute die 19-fache. Die fränkische Stimme ist also leiser geworden im bayerischen Konzert. Bei der Landtagswahl 1893 stellte Oberfranken 18 Abgeordnete, Oberbayern 28. Zugegeben, damals wurde Oberfranken ebenso wie Mittelfranken bevorzugt. Denn die vom Prinzregenten eingesetzte Staatsregierung war liberal, sie begünstigte daher evangelische Landstriche, um die liberale Fraktion im Landtag zu vergrößern. Im Jahr 1893 28 zu 18, heuer dann 60 zu 16. Die fränkische Stimme ist dünn geworden. Dennoch, sie wäre schon zu hören, wenn alle sich auf Tonart, Melodie und Tempo einigten. Stattdessen jenes wirre, wüste Durcheinander, stattdessen Rede und Gegenrede zugleich. Woher kommt das? Es ist ererbt. Der Tag der Franken soll die Geschichte Frankens herausstellen. Aus dieser Geschichte wird dabei der Reichskreis beschworen und beinahe nur er. Sicher, der Zusammenschluss von geistlichen und weltlichen Fürstentümern, von Reichsstädten und Grafschaften stiftete Gemeinsamkeit unter diesen 27 fränkischen Herrschaften. Eigentlich hatte der Kaiser die Reichskreise 1500 nur ins Leben gerufen, damit sie Beisitzer für das kurzlebige Reichsregiment kürten. Dann sollten sie Richter für das Reichskammergericht auswählen – anfangs ihr einziger Zweck. Erst nach und nach bekamen die Reichskreise ein Eigenleben, der fränkische allen voran. Er zog Aufgaben an sich: Er stellte Truppen für Reichskriege, baute Fernstraßen, kontrollierte das Münzwesen, sorgte für die innere Sicherheit, verfocht eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Die jüngere Forschung spricht, etwas floskelhaft, von vor- oder frühmoderner Staatlichkeit, die sich im Reichskreis manifestiere. Richtig. Einerseits. Andererseits hatte der Reichskreis gehörige Schwächen. Wenn die Gesandten in Nürnberg zum Kreistag zusammentrafen, dann verzettelten sie sich in Rangstreitigkeiten, und manche Sitzungsperiode schleppte sich über Monate, gar Jahre hin. Man erstrebte Einmütigkeit und vermied deshalb klare Entscheidungen. Auslagen des Reichskreises hatten die zugehörigen Herrschaften nach einem bestimmten Schlüssel zu tragen; weil aber die Reichsstadt Nürnberg ihren Anteil nicht aufbringen konnte und die anderen ihre Zahlungen entsprechend deckelten, häufte der Reichskreis drückende Schulden auf. Das Hemd des eigenen Landes war allen näher als der Rock des Reichskreises, den Herrschenden wie den Beherrschten. Mächtigere Landesherren benutzten den Reichskreis bisweilen für eigene Zwecke. Damit der Würzburger Fürstbischof seinen Star-Architekten Balthasar Neumann halten konnte, verschaffte er ihm, im Würzburgischen bloß Major, beim Reichskreis zusätzlich die Stelle eines Oberstleutnants – und verdoppelte so sein Gehalt. (Pflichten waren damit kaum verbunden. Der Kreistag grummelte zwölf Jahre später anlässlich der Beförderung Neumanns zum Oberst, er habe „dem creyss noch keine stund im feld gedienet“. Als er gestorben war, strich man die Stelle kurzerhand – „als eine ganz überflüssige und ohnnöthige sache“.) Die Wirksamkeit des Reichskreises war eingeschränkt. Denn zwischen den Fürstentümern, Reichsstädten und Grafschaften, ja mitten in deren Gebieten lagen unzählige reichsritterliche Herrschaften, die nicht Teil des Reichskreises waren – 200 allein im Bereich des Hochstifts Würzburg. Wenn der Reichskreis eine Streife gegen Bettler oder Gaunerbanden aussandte, dann konnten die Gejagten leicht in ein nahes Adelsdorf entkommen. Gewiss, der Reichskreis war bedeutsam. Aber er war auch träge und nur begrenzt wirksam. Gedenken wir getrost dieses Gebildes. Aber überschätzen wir es nicht. Was Franken viel mehr prägte – und dieses Erbe wirkt fort –, war das Nebeneinander von Gewalten. Schon in der quellenarmen Düsternis des Frühmittelalters zeigt sich, dass nicht eine Familie, nicht eine Institution Franken prägte, sondern vielmehr konkurrierende Grafengeschlechter, die erstarkende Würzburger Kirche, auswärtige Gewalten. Mit der Zeit traten immer mehr Herrschende auf den Plan, und in der frühen Neuzeit, zur Zeit des Reichskreises, sehen wir Franken zersplittert, zerfasert, aufgeteilt in Einheiten unterschiedlicher Größe, vom Hochstift Würzburg, gut 6000 Quadratkilometer groß und mit über 260.000 Untertanen im späten 18. Jahrhundert, bis hin zum Reichsritter, der Herr nur eines Dorfes war. Die Herrschenden führten das Regiment nicht aufgrund eines einzigen Rechts. Es gab keine Landeshoheit als solche. Herrschaft stützte sich auf verschiedene Rechte, die aus unterschiedlichen Quellen flossen und oft nicht in einer Hand lagen. Das machte Herrschen schwierig: Der Bamberger Fürstbischof regierte ein Land, aber er regierte nicht an jedem Ort des Landes auf gleicher Rechtsgrundlage. Und mancherorts war er Landesherr, hatte aber trotzdem nichts zu sagen, weil eine reiche Abtei seine Stellung aushöhlte: Wenn ein Verbrechen vorfiel, durften bambergische Beamte den bambergischen Ort nicht betreten, sondern mussten sich Übeltäter und Beweismittel an einer Grenzsäule vor dem Dorf aushändigen lassen. Fürstentümer hatten keine scharfen Grenzen. Sie fransten an ihren Rändern aus, dort, wo sich ihre Befugnisse mit Ansprüchen des Nachbarn überschnitten. Konflikte waren vorprogrammiert. Das Gesamtgefüge Frankens war in der frühen Neuzeit stabil, aber um so leidenschaftlicher stritt man über Details. (Zumal seit dem 16. Jahrhundert in den Regierungen und Kanzleien Juristen den Ton angaben.) Ob es nun um Gerichtsrechte in einen abgelegenen Weiler, um ein dörfliches Wirtshaus, um ein paar Kreuzer Gebühren ging: Aktenbündel schwollen an, die Reichsgerichte bekamen zu tun, Rechtsgelehrte verfassten Gutachten, eine Entscheidung ließ Jahrzehnte auf sich warten – und schließlich verlief die Angelegenheit im Sand, bis der Streit irgendwann neu aufflammte. Das Nachbardorf unterstand oftmals einer fremden Herrschaft und war somit Ausland. Schon das Nachbaranwesen im eigenen Dorf konnte Ausland sein. Im Alltag bedeutete das nicht viel: ein anderer Schultheiß, der Abgaben einforderte, ein anderer Vogt, der eine Schlägerei ahndete. Aber die Grenze konnte jederzeit Realität werden. 1794 führten vier Bewaffnete, Untertanen des Bamberger Fürstbischofs, einen „liederlichen Bursch“ zur Bestrafung nach Bamberg. Unterwegs kehrte man im bambergischen Wirtshaus von Unterleiterbach ein. Da entwand sich der Gefangene seinen Bewachern und rannte in eine offenstehende Scheune. Sie aber gehörte zu einem ritterschaftlichen Anwesen. Die dort anwesenden Untertanen des Adligen riefen „Hier ist Freiheit“ und gaben ihn nicht heraus. Unverrichteter Dinge musste der Bewachungstrupp abziehen. Solche Geschichten finden sich zuhauf. Gewiss, es gab auch Landstriche, die von flächiger Herrschaft geprägt waren: ein Großteil des Bayreuther Oberlands, die ausgedehnten Landgebiete der Reichsstädte. Vorherrschend aber war die Kleinteiligkeit, die Überlagerung von Rechten. Das war im frühneuzeitlichen Kurfürstentum Bayern anders. Sicherlich war Bayern nicht so einheitlich, wie es aus der Ferne scheint. Auch dort besaßen Adel und Klöster Sonderrechte in ihren Hofmarken. Doch alles überragte die starke Zentralgewalt, über allem stand unangefochten der Kurfürst. In Franken, da hatte kein Fürst das Übergewicht. Hier gab es nicht ein Zentrum, sondern eine Fülle von Zentren unterschiedlicher Strahlkraft. Mit dem Nachbarn war man beileibe nicht verfeindet. Aber man musste stets vor ihm auf der Hut sein. Diese dauernde Sorge, der Nachbar könne einen Vorteil gewinnen, sie scheint den Franken in Fleisch und Blut übergegangen. Das macht die Stimme Frankens schwach. Der fränkischen Geschichte ist der Tag der Franken gewidmet. Das Gesagte zeigt schon: Man muss genau hinsehen, bis auf die örtliche Ebene, um diese Geschichte zu verstehen. Durchdrungen ist das komplexe, kleinteilige Franken längst nicht. 1824 schrieb ein Bamberger Archivar 200 Fragen nieder zur Geschichte des – die Formulierung ist bezeichnend für einen bayerischen Beamten jener Zeit – „ehemaligen Frankenlandes“. Bis heute sind sie nicht alle beantwortet, und in Wahrheit gibt es 200mal 200 Fragen. Jede Zeit stellt ihre eigenen. Da tut Forschung Not. Mit ihr freilich ist es nicht gut bestellt: Die universitäre Landesgeschichte ist auf dem Rückzug. Vor einigen Jahren wurde sie in Erlangen reduziert, heute scheint sie in Bayreuth vor dem Aus zu stehen. In Bamberg gab es sie nie als eigenes Fach. Regionalgeschichte – sie hat einen schlechten Ruf innerhalb der ohnehin nicht auf Rosen gebetteten Geisteswissenschaften. International, global muss es sein. Als ob das ein Gegensatz wäre! Welche Einfalt! Ist Astrophysik wichtiger als Mikrobiologie, weil es um größere Räume geht? Nicht die Flächenausdehnung macht das wissenschaftliche Gewicht. In Wahrheit ist Regionalforschung Grundlagenforschung. In Stanford hat eine Historikerin, ausgebildet in Berkeley und Harvard, kürzlich die Entstehung der deutsch-deutschen Grenze am Beispiel von Neustadt bei Coburg und Sonneberg beleuchtet. Sie wird dafür mit Preisen überhäuft. Hierzulande würde ein junger Wissenschaftler durch eine solche Mikrostudie seine akademische Karriere beenden, bevor sie begonnen hat. Forschung tut Not. Wenn die Universitäten versagen, dann könnten außeruniversitäre Forschungseinrichtungen helfen – wenn es sie gäbe. Sie aber bestehen allenfalls in der entlegenen Hauptstadt. Warum sollte es auch anders sein als in den Natur- und Ingenieurwissenschaften? Von 13 Max-Planck- Instituten Bayerns sitzen zwölf in Oberbayern, eines nur in Franken. Ein Blick auf die Staatsbibliothek Bamberg zeigt die Misere. Sie birgt tausendjährige Schätze. Die mittelalterlichen Prachthandschriften aus dem Domschatz sind nämlich nicht nach München verschleppt worden. Sechs Bände aus Bamberg liegen in der Hauptstadt (sechs zu viel, zugegeben), aber rund 160 Bände aus der Lebenszeit Kaiser Heinrichs II. oder älter, aus dem 6. bis frühen 11. Jahrhundert, sind in Bamberg geblieben. Einige stehen auf der UNESCO-Liste des Weltdokumentenerbes, ein Codex erst seit wenigen Tagen. Dem Wert der Bestände, auch der jüngeren, entspricht die personelle Ausstattung in keiner Weise. Echte Forschungsbibliothek müsste die Bamberger Bibliothek sein wie ihre Schwestern in Wolfenbüttel und Weimar – und das sind bekanntlich nicht die Hauptstädte von Niedersachsen und Thüringen. Dort geht’s. Hier bisher nicht. Regionale Geschichte ist nicht beschauliches Verharren im Gestern, sondern nützlich im Heute. Geschichte bildet für die Zukunft. So manches scheint selbstverständlich, wirkt zwangsläufig – erst der Blick zurück korrigiert das Vorurteil. Lassen sie mich einen Gedanken herausgreifen. High-Tech gehört in die Großstadt und nur dorthin. Das ist gelebte Überzeugung der institutionalisierten Wissenschaft, der Medien, der Politik. Das steht hinter der Empfehlung des Sachverständigenrats der Staatsregierung aus dem Jahr 2011: Er will lediglich sechs Großstädte zu Leistungszentren ausgebaut wissen, vier südlich der Donau, zwei nördlich. Hinter solcher Haltung steht ein verbreitetes, durchaus altes Bild vom Land als Stätte der Zurückgebliebenheit. Modernität sei in der großen Stadt daheim, dort und nur dort gehöre sie hin. Unsinn, wie die regionale Wirtschaftsgeschichte zeigt. Die frühe chemische Industrie Frankens, geprägt durch die Herstellung von Berlinerblau, war in Dörfern, selbst Weilern zu Hause. Blaufabriken entstanden nach 1750 in Vestenbergsgreuth, in Grub am Forst, in Hemhofen, in Streit bei Frankenhaag, in Birnbaum bei Neustadt an der Aisch. Die ersten fränkischen Porzellanfabriken, die Bestand hatten, hatten ihren Sitz nicht in Städten, sondern in Dörfern: in Schney bei Lichtenfels, in Reichmannsdorf im Steigerwald, in Tettau im Frankenwald – weitab von Metropolen. Die große Stadt, die Hauptstadt gar als Motor des Fortschritts, das erweist sich dank des Rückblicks als Fiktion. Frühe Industrie gedieh nicht in der trägen Wohlhabenheit der Reichsstädte, nicht im Glanz der Residenzen. Hier in Franken machte eher Not erfinderisch. Vielleicht auch das ein Erbe, das wir in uns tragen. Geschichte verläuft nicht nach naturgesetzlichen Regeln. Sie ist Menschenwerk, bestimmt vom Planen und Entscheiden der Oberen, von Moden und von Stimmungen im Volk – und von vielen, vielen Zufällen. Franken und ganz Bayern könnten auch anders aussehen. Dieses Bewusstsein sollte dem landsmannschaftlichen Diskurs mehr Gelassenheit verleihen. Die Herzöge von Meranien aus dem Haus Andechs, die Stadtgründer von Lichtenfels, Weismain, Scheßlitz, Hof, Bayreuth, die von hier aus ihr Reich regierten, das sich bis Dalmatien, Tirol, Burgund erstreckte, sie starben 1248 aus. Was, wenn die Familie weiterexistiert hätte? Dann säßen wir jetzt in Obermeranien, keiner spräche von Franken oder von Bayern. Bayreuth wurde ab 1792 von Berlin aus regiert, dann von Paris aus, erst dann von München aus. Was, wenn Bayreuth bei Preußen geblieben wäre? Der Untermain um Aschaffenburg gehörte ab 1810 zum Großherzogtum Hessen und kam erst 1816 zu Bayern. Was, wenn Bayern schlecht verhandelt hätte? Miltenberg und Wörth würden heute in Hessen liegen, und niemand sähe sie als Teil Frankens an, zumal sie zuvor nicht zum Fränkischen Reichskreis gehört hatten. Wie ein Land zugeschnitten ist, wo im Land Zentren sind und wo Peripherie, all das ist nicht gott- oder naturgegeben. Es ist Menschenwerk. Zentren entstehen nicht, sie sind menschengemacht. Bayreuth ist demnächst wieder „Weltstadt auf Zeit“ – dank Wagner und dank seines Königs. Es hätte anders kommen können: Noch Ende 1871 – die Vorbereitungen für das Festspielhaus stockten –, da bot der Magistrat von Reichenhall ein Grundstück an. Was, wenn Wagner zugestimmt hätte? Dann stünde das Festspielhaus in Bad Reichenhall; dort, vor dem Alpenpanorama, hätte es heute vielleicht den Status einer Staatsbühne. Aber Wagner entschied sich dagegen und blieb hier. Schließlich fühlte nicht nur er sich hier wohl, sondern sogar Frau Cosima. Als Tochter eines Weltstars und einer Aristokratin alles andere als volksnah, notierte sie doch nach dem Besuch eines Kasperltheaters: „der oberfränkische Dialekt des Puppenspiels machte mir viel Vergnügen, es entstand ein großes Leben dadurch“. Zentren sind menschengemacht. Diese schlichte Erkenntnis gilt selbst für das Zentrum Bayerns. Erlauben Sie mir eine Fiktion. Ein Kapitel verkehrte Geschichte. Es beginnt mit einem Unglück: Eine Krankheit rafft – sagen wir: 1817 – den bayerischen König Maximilian I. Joseph und mit ihm seine Söhne und Enkel hin. Es erbt der nächste Blutsverwandte, Herzog Wilhelm in Bayern. Ihn hat ein Jahrzehnt zuvor der König, sein Schwager, nach Bamberg abgeschoben. Nun mag der neue König Wilhelm nicht nach München ziehen. Er bleibt in Bamberg und verlegt die Hauptstadt des Königreichs Bayern kurzerhand dorthin. In Bamberg lassen er und seine Nachfolger Pinakothek und Glyptothek errichten, hier schaffen sie einen breiten Prachtboulevard, gesäumt von Ministerien und riesiger Bibliothek, hier gründen sie eine Kunstakademie und große Museen. Die Landesuniversität wird 1826 aus Landshut wegverlegt, natürlich nicht nach München, sondern nach Bamberg. Kurzum, Bamberg wird planmäßig zur Kunst- und Wissenschaftsmetropole ausgebaut. Was wäre heute? Bamberg wäre die zweitgrößte Stadt Bayerns hinter der Doppelstadt Nürnberg-Fürth, vereinigt, um gegen die Hauptstadt besser zu bestehen, gefolgt von Augsburg, an vierter Stelle München mit bröckelndem Charme vergangener Fürstenpracht. In Bamberg, da ballten sich Verwaltung, staatsfinanzierte Kunst, Weltfirmen, Geldadel. In Scheßlitz stünde die Technische Universität des Landes. Der wichtigste Flughafen des Landes wäre der Hans-Ehard-Airport bei Zeil am Main. Nahe Hirschaid wäre um das Olympia- Gelände ein ganz neuer Stadtteil entstanden. Litzendorf wäre das subversive Künstlerviertel der Hauptstadt. Der Bayerische Rundfunk säße in Breitengüßbach und würde mehr über den Thüringer Wald berichten als übers ärmlichländliche, den Redakteuren wenig vertraute Voralpenland. Wenn das alles so wäre, dann hätte die Staatsregierung bestimmt etwas getan fürs benachteiligte, periphere Oberbayern. Sie hätte Behördenteile dorthin verlagert, gegen den Protest der betroffenen Beamten; die hätten nämlich lautstark über die Gesundheitsgefährdung durch den Föhn gestöhnt. Vielleicht hätte die Regierung die Beamtenausbildung in Rosenheim angesiedelt. Dann würde der Bamberger Oberbürgermeister fragen, warum er seine Nachwuchskräfte denn in die Provinz, an die Tiroler Grenze schicken solle. Man würde viele Klagen aus dem Süden hören, dass die Ministerialbürokratie nicht über den Bratwurstäquator, die Donau, hinausdenke. Der Altbayerische Kampfbund würde Fahnen schwenken und beständig quengeln über Beutekunst, die angeblich in Bamberger Museen liege. Genug der Fiktion. Die Wirklichkeit ist anders. Doch so oder so: Zentralität ist Menschenwerk plus Zufall. Was aber Menschen geschaffen haben, können Menschen auf lange Frist auch ändern. Das lehrt Geschichte: Nichts ist zwangsläufig. Auch nicht, wie Franken auftritt. Gut möglich, dass wir Franken ein kollektives Erbgut in uns tragen, das uns zum Nebeneinander und Gegeneinander treibt. Aber das ist Menschenwerk. Niemand zwingt uns, ein solches Erbe anzunehmen. Wir können auch anders: Wir können uns mi te inander präsentieren. Wir können aus den vielen verschiedenen Tönen e ine Symphonie werden lassen. Wir können laut und einmütig rufen nach dem, was Not tut. Dann hört man uns im ganzen Land.

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