Wirtschaft

Immer mehr Menschen können von ihrer Arbeit nicht leben. (Foto: dpa)

17.10.2014

Immer mehr atypische Jobs

DGB Mittelfranken beklagt „Amerikanisierung des Arbeitsmarkts“

Die atypische Beschäftigung hierzulande nimmt zu. Laut Hans-Böckler-Stiftung arbeiteten 2013 mehr als 43,3 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland in befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder in Teilzeit, als geringfügig Beschäftigte oder Aushilfen, als Saisonarbeiter oder in der Leiharbeit.
„Die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes schreitet voran“, sagte Stephan Doll, Chef des DGB Mittelfranken, vor der Presse in Nürnberg. Prekäre Beschäftigung sei auf dem Vormarsch. So nahmen allein in Mittelfranken die unbefristeten Vollzeitstellen von 1991 bis 2012 um 14,8 Prozent ab. Im gleichen Zeitraum wuchs aber die Teilzeitarbeit mit bis zu 20 Wochenstunden um 96,4 Prozent und die Teilzeit mit mehr als 20 Wochenstunden um 57,8 Prozent. Andere atypische Beschäftigung wie Leiharbeit oder befristete Jobs nahmen von 1991 bis 2012 um 52,7 Prozent zu.
Neben der kaum existenzsichernden Einkommen, die durch die atypische Beschäftigung ausgelöst werden, würden die Betroffenen laut Doll auch unter Sinn- und Anerkennungsverlust, Planungsunsicherheit und Unzufriedenheit leiden. „Wenn sich jemand hierzulande über die geringe Geburtenrate wundert, soll er einmal das angebliche Jobwunder in Deutschland genauer ansehen“, meint Mittelfrankens DGB-Chef. Denn Menschen, die ihre finanzielle Zukunft wegen permanent drohender Arbeitslosigkeit oder viel zu geringer Entlohnung kaum planen können, würden eben auch vom Kinderkriegen Abstand nehmen.
Doll warf auch einen Blick auf die Niedriglohnentwicklung in Europa. So arbeiteten 2010 rund 24 Prozent der Erwerbstätigen hierzulande für ein Entgelt unterhalb der Niedriglohnschwelle. Damit lag Deutschland auf Platz zwei hinter Litauen. Hinzu komme aber, dass in Deutschland die Niedriglöhne besonders niedrig sind. Um 17 Prozent niedriger als die Niedriglohnschwelle waren die Entgelte im Niedriglohnsektor hierzulande. Damit war Deutschland 2010 einsamer Spitzenreiter in Europa. Schweden folgte mit 14 Prozent auf Platz zwei.
In diesem Zusammenhang lobte Doll die Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015. Denn durch den Mindestlohn würde der Bund jährlich 700 bis 900 Millionen Euro an Arbeitslosengeld-II-Ausgaben einsparen – vorausgesetzt, Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bleiben kurzfristig konstant. Laut Doll verbessert sich die Einkommenssituation von zirka 3,7 Millionen Beschäftigten in Deutschland. Allein in Nürnberg könnten bis zu 51.811 Beschäftigte vom Mindestlohn profitieren (darunter 28.266 Minijobber). „Das entspricht einer zusätzlichen Kaufkraft von 130,4 Millionen Euro“, betonte der Gewerkschaftschef.
Betrachtet man den Anteil atypischer Beschäftigung an allen Beschäftigungsverhältnissen, kann man von 2003 bis 2013 eine Zunahme feststellen, so Doll. Lag die Quote 2003 noch bei 31 Prozent in ganz Bayern, wuchs sie bis 2013 auf 42,6 Prozent. In Ansbach, dem Sitz vieler Leiharbeitsfirmen, stieg die Quote im entsprechenden Zeitraum von 35,7 auf 48,1 Prozent. In Nürnberg gab es ebenfalls einen Anstieg: von 29,6 auf 42,2 Prozent.
Ein besonderer Dorn im Auge sind Doll die so genannten Werkverträge. Über schier endlos konstruierbare Ketten von Subunternehmerverträgen könnten Menschen befristet zu schlechten bedingungen beschäftigt werden. „Leider gibt es keine gesetzliche Meldepflicht für Werkverträge, sodass wir hier keine Zahlen liefern können“, erklärte Doll. Doch anhand von zwei Beispielen verdeutlichte er die Konsequenzen von Werkverträgen für Beschäftigte. Während eine festangestellte Lagerfachkraft beim Hubschrauber-Hersteller Eurocopter aus Donauwörth rund 3250 Euro brutto im Monat verdiene, erhalte ein Stammbeschäftigter des Dienstleisters Fiege, der bei Eurocopter die gleiche Lagerarbeit erledige, nur 1860 Euro brutto im Monat.
Auch bei der Audi AG könne man entsprechende Einkommensdisparitäten zwischen Stammbelegschaft und über Werkverträge Beschäftigte feststellen. So erhalte ein FH-Ingenieur als Berufsanfänger bei Audi direkt zwischen 3850 und 4070 Euro brutto im Monat - je nach Abschluss (BA, Master oder Diplomingenieur). Ein über den Dienstleister EDL (rund 700 Mitarbeiter im Raum Ingolstadt) beschäftiger Ingenieur erhält nur 3300 Euro brutto im Monat, und muss mit 40 Stunden eine um fünf Stunden höhere Wochenarbeitszeit leisten. Auch in den Genuss der Gewinnbeteiligung von durchschnittlich 8200 Euro (Wert aus dem Jahr 2011) kommt der über Werkvertrag Beschäftige bei Audi nicht.
Sehr kritisch beleuchtet Doll auch die so genannten Aufstocker. Das sind Bezieher von Arbeitslosengeld II, die gleichzeitig arbeiten. Im Juni 2012 gab es davon bundesweit 1,35 Millionen. In Bayern kosteten die Aufstocker im Jahr 2012 den Steuerzahler rund 270 Millionen Euro. Betroffen davon sind auch die kommunalen Haushalte, die die Kosten für die Unterkunft begleichen müssen. Allein die finanziell sowieso schon stark in Bedrängnis geratene Stadt Nürnberg musste hierfür 2012 rund 18 Millionen Euro aufwenden.
„Das ist Subventionierung der Löhne durch den Steuerzahler“, verdeutlichte Doll. Er frage sich, wann endlich Kammern und Unternehmen diesen Wettbewerbsvorteil, den sich einige Firmen durch Werkvertragsbeschäftigte ermöglichen, öffentlich anprangern und die Politik zum Handeln zwingen.
(Ralph Schweinfurth) Info
Anteil atypischer Beschäftigung an allen Beschäftigungsverhältnissen in Bayerns Großstädten laut Zahlen der Böckler-Stiftung für das Jahr 2013:
Augsburg       47,1 Prozent
Erlangen        37,7 Prozent
Fürth              40,5 Prozent
Ingolstadt      35,7 Prozent
München        38,2 Prozent
Nürnberg       42,2 Prozent
Regensburg   45,5 Prozent
Würzburg      42,6 Prozent

Kommentare (3)

  1. Zitrone am 20.10.2014
    Ach verstehe.! Dann sind die Abgeordnetenbezüge sozusagen nur die Grundsicherung!
  2. Super Horsti am 20.10.2014
    Warum soll Gauweiler keine Nebeneinkünfte haben? Der Mann ist ein Staranwalt, gewinnt aussichtslose Prozesse. Qualität hat seinen Preis.
    Sie sollten mal das Buch von Gerald Hörhan lesen: Warum ihr arbeitet und wir reich werden!
  3. Zitrone am 18.10.2014
    Ich wünsche mir, dass sich die bayerische Regierung, also CSU endlich daran macht, das C und das S im Namen zu rechtfertigen, indem sie sich um die wirklich Bedürftigen kümmert und nicht nur um die Schickeria an den bayerischen Seen. Aber die leisten halt die Parteispenden.

    Solange dies nicht geschieht, bleibt CSU für mich das Synonym für Capitalistische Spezlvereinigung.
    Sie sollte sich schämen, den Abgeordneten mit den höchsten Nebeneinkünften (Gauweiler) auf ihrer Liste und im Vorstand zu haben.
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