Wirtschaft

„Auf AEG“ in Nürnberg, wo 2005 die Lichter ausgingen und rund 1800 Menschen arbeitslos wurden, sind inzwischen viele Gebäude renoviert und mit neuem Wirtschaftsleben erfüllt. In einem noch unrenovierten Teil soll bis 2016 die Kulturwerkstatt für 16 Millionen Euro eingerichtet werden. (Foto: Schweinfurth)

05.07.2013

Industriebrachen neues Leben einhauchen

EU-Projekt „Second Chance – Kunst und Kultur als Erfolgsfaktoren der Stadterneuerung“ zeigt Beispiele aus fünf europäischen Städten

Schandflecke gibt es in fast jeder Stadt. Doch was macht man mit Industriebrachen, wenn sich kein Nachnutzer findet? Das EU-Projekt „Second Chance – Kunst und Kultur als Erfolgsfaktoren der Stadterneuerung“, das im Janauar 2010 begonnen wurde, kümmert sich darum in Krakau, Leipzig, Ljubljana, Nürnberg und Venedig. Bei der Abschlusskonferenz in Nürnberg lautet die klare Botschaft, dass Kunst und Kultur als Treiber eine entscheidende Rolle spielen bei der Revitalisierung aufgegebener, vormals gewerblich genutzter Produktionsstätten.
„Allein in Deutschland gibt es 2000 Quadratkilometer an ungenutzten Industrieflächen“, betont Nürnbergs habilitierte Kulturreferentin Julia Lehner (CSU) zum Auftakt der Abschlusskonferenz von „Second Chance“. Für sie ist klar, dass es den Kommunen nur in Zusammenarbeit mit privaten Investoren gelingt, diese Areale einer neuen Nutzung zuzuführen. So befindet sich derzeit das etwa 168.000 Quadratmeter umfassende ehemalige AEG-Gelände im Westen der Frankenmetropole in der Konversion. Viele der einst vom schwedischen Elektrokonzern Electrolux (AEG war eine Sub-Marke für Haushaltsgeräte) aufgegebenen Hallen haben bereits einen neuen Nutzer gefunden. Mit Fördermitteln des Freistaats Bayern wurden zum Beispiel das E-Drive-Center und der Energie Campus errichtet. „Auf AEG“ heißt jetzt die ehemalige Industriebrache, die der Investor MIB Fünfte Investitionsgesellschaft mbH aus Leipzig entwickelt. Finanzielle Unterstützung erhält die Stadt Nürnberg für „Auf AEG“ auch vom Bundesbauministerium aus dem Programm „Stadtumbau West“.
Ein wesentlicher Impulsgeber für die Revitalisierung von „Auf AEG“ ist aber die Kreativwirtschaft. Künstler, die im Zuge des Leerstands die einstigen AEG-Produktionsstätten genutzt haben und noch nutzen, sorgen nicht nur für die nötige Aufmerksamkeit. Sie hauchen mit ihrem Schaffen den alten Hallen neues Leben ein. Theater, Tanz, Musik, Performances, Ausstellungen – alle nur erdenklichen Kunstformen sorgen für einen kreativen Geist „Auf AEG“. Das soll aber nicht nur bis zur endgültigen lukrativen Vermietung des letzten Quadratmeters an irgendein Unternehmen so sein, sondern immer. Kunst und Kultur werden „Auf AEG“ ein fester Bestandteil bleiben. Schließlich fungieren sie als Impulsgeber für die Entwicklung kreativer Ideen, Dienstleistungen und Produkte – gerade in einer vom demografischen Wandel betroffenen Gesellschaft. Stadt Nürnberg investiert
Darum wird neben der bereits seit einiger Zeit genutzten Werkstatt 141 bis zum Jahr 2016 für 16 Millionen Euro noch ein Kulturzentrum eingerichtet. Die Stadt Nürnberg erhält hierfür Mittel aus der Städtebauförderung. Damit dürfte Nürnberg bundes-, wenn nicht sogar europaweit zu einem Vorbild aufsteigen. Denn welche Kommune leistet sich in der jetzigen Zeit noch so ein großes Investment in Kunst und Kultur.
Insgesamt 3,6 Millionen Euro an Fördergeldern hat die EU den fünf Städten für das Projekt „Second Chance“ in den vergangenen drei Jahren zur Verfügung gestellt. Dabei sind nicht nur in der Frankenmetropole wichtige Revitalisierungen angestoßen worden. In der slovenischen Hauptstadt Ljubljana arbeitet man an der Erweckung der ehemaligen Fahrradfabrik Rog aus dem Dornröschenschlaf. Leider ist dort die schon weitreichende Planung mit der Stadt wegen der Wirtschaftskrise ins Stocken geraten. Doch die Kreativen geben nicht auf und haben für die Zwischenzeit ein aus Containern bestehendes sozio-kulturelles Zentrum errichtet, das viel Zulauf erfährt – das so genannte Rog-Lab. Wenn wieder mehr Geld verfügbar ist, soll das historische Gebäude der einstigen Fahrradfabrik um moderne Architektur ergänzt und zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst werden.
In Krakau ist seit 1995 ein ehemaliges Straßenbahndepot für kulturelle Zwecke umgestaltet worden. Das gesamte Areal im Stadtteil Kazimierz umfasst neun Gebäude und eine 3200 Quadratmeter große Außenfläche. Während die Außenfläche für kulturelle Zwecke dient, beherbergen die Hallen das städtische Museum für Infrastruktur und Verkehr.
In Venedig bietet das Arsenale (ehemals Schiffswerft, dann Lagerhallen) auf 480.000 Quadratmetern Raum für Ausstellungen, Theater, Tanz, Musik und Festivals. Es soll das wissenschaftliche und kulturelle Zentrum der Lagunenstadt werden. Der dazugehörige Turm „Torre di Porta Nuova“ wird bereits als „Ideenschmiede“ und Ausstellungsfläche für lokale und internationale Initiativen und Künstler genutzt. Die letzte Biennale nutzte schon den Torre.
Dem AEG-Gelände sehr ähnlich ist die ehemalige Baumwollspinnerei in Leipzig. Dort wird die Halle 14 auf dem 125 Jahre alten Gelände als gemeinnütziges Kunstzentrum genutzt. Der Rest des Areals soll zur Ansiedlung innovativer und kreativer Unternehmen dienen. Kein Wunder, dass die Konzeption der in Nürnberg nahe kommt, denn der zentrale Investor, der das Gelände entwickelt, ist der gleiche: Bertram Schulze von MIB. Kreatives Umfeld ist wichtig für Unternehmen
Wie wichtig das kreative Umfeld für die Produkt- und Dienstleistungsentwicklung von Unternehmen ist, verdeutlicht bei der Abschlusskonferenz von „Second Chance“ Philippe Lukazs, Professor für Innovationsmanagement an der École Centrale de Paris, der führenden französischen Universität für Ingenieurswissenschaften. Er behauptet: „Ein Unternehmen muss Kunst haben.“ Denn nur sie könne die nötige Kreativität entwickeln, um im globalen Innovationswettbewerb zu bestehen. Alle 18 Monate verdopple sich die Rechenleistung von Computern. Mit dieser Geschwindigkeit könne der Mensch nicht Schritthalten, erklärt der frühere Manager für Personalwesen bei der Thomsen Group, einem der führenden Elektronikkonzerne Frankreichs.
Anhand des Comupterherstellers Apple verdeutlicht Lukazs, dass es oftmals Design ist, das den Unternehmenserfolg ausmacht. „Ein Apple ist eine elegante und ästhetische Lösung.“ Die Menschen würden das mögen, obwohl der Rechner teils etwas umständlicher zu handhaben sei als andere.
Fast einen Gegenentwurf zu Lukazs’ Plädoyer für Kunst in Unternehmen postuliert der emeretierte Architekturprofessor Klaus Kunzmann von der TU Dortmund, der einst seine wissenschaftliche Karriere in München startete. Er sieht gerade für vermeintlich vom Wohlstand abgeschnittene und die dort zurückgelassenen Industriebrachen Entwicklungsmöglichkeiten. In Zeiten von iPad, iPhone, ICE, TGV und Fastfood komme es zu einem rasanten Anstieg psychischer Krankheiten wie Burnout und physischer Erkrankungen, die in Kurorten wieder kuriert werden müssten. "Langsame Gesellschaft" kreieren
Deshalb sei es an der Zeit, eine „langsame Gesellschaft“ zu kreieren. Als Gemeinwohl sieht er die langsame Entwicklung an. Gerade benachteiligte Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit für die Jugend könnten die Tugenden des Handwerks wiederentdeckt werden. „Denn, wer baut denn all die Dinge, die die Ingenieure erfinden? Wir haben inzwischen einen enormen Mangel an Handwerkern und Handwerkskunst“, so Kunzmann. Hier könnten Kreative und Kunstschaffende als Inspirationsquelle für die Wiederentdeckung alter Handwerkskünste fungieren.
Wie Kunst und Kultur Stadterneuerungsprozesse anstoßen, verdeutlicht Matja Ur(s)i(c) vom Institut für Raumsoziologie der Universität Ljubljana. Städtische Nachhaltigkeit entstehe durch Inklusion aller sozialer Bevölkerungsschichten, so der promovierte Wissenschaftler. Er macht das am Beispiel der Südstaatenstadt New Orleans deutlich. Galt sie lange vor dem Siegeszug der Jazz-Musik als rückständig, arm und schmutzig, so änderte sich das schlagartig. Die Musik als Kunstform sorgte für einen Imagewandel. Im Zuge des Aufstiegs von New Orleans gewann dort das gesamte wirtschaftliche Umfeld. Nicht nur Häuser stiegen in ihrem Wert.
Insgesamt zeigt „Second Chance“, dass Industriebrachen erfolgreich wiederbelebt werden können, wenn man Kunst und Kultur intelligent dafür einsetzt. Das Nürnberger Projekt „Auf AEG“ wurde gerade wegen dieses Ansatzes mit einem nationalen Preis ausgezeichnet. Deshalb wünscht sich Jürgen Markwirth, Leiter des Amts für Kultur und Freizeit der Stadt Nürnberg, dass die bayerische Staatsregierung derartigen Projekten mehr Aufmerksamkeit schenkt. (Ralph Schweinfurth)

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