Inge Hannemann, einst Vermittlerin beim Jobcenter Hamburg, sieht Kürzungen bei Hartz IV-Sätzen als reines Druckmittel an, um die Menschen weiter im Billiglohnsektor zu halten. (Foto: Wraneschitz)
Für die einen – das sind wohl fast nur die Juristen – heißt es „Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Alle anderen nennen es schlicht Hartz IV. Zum 1. Januar 2005 trat der unter Gerhard Schröder (SPD) durchgesetzte Ersatz für die früheren Unterstützungen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in Kraft. Zehn Jahre später blicken ver.di Mittelfranken und die katholische CPH-Akademie zurück.
Peter Hartz, der Mann, nach dem die Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ benannt sind, merkte schon wenig später: „Herausgekommen ist ein System, mit dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden.“ Aber da war der einstige VW-Manager selbst gerade zu zwei Jahren Bewährung verurteilt worden, wegen Untreue und Begünstigung. Statt Hartz holen sich die Veranstalter deshalb lieber Betroffene beider Seiten als Zeugen.
Über 1000 Bewerbungen und doch kein Job
Da ist zum einen Tom de Buhr, ein Nürnberger Erwerbsloser: Als seine Firma 2012 schrumpfte, akzeptierte er einen Aufhebungsvertrag. Damit war er seinen Job los. Und seither bekam er keinen mehr – trotz Ausbildungen zum Tiefdrucker und Industriemechaniker. Er habe über 1000 Bewerbungen geschrieben, sein letztes Vorstellungsgespräch hatte er bei einer Spedition. Doch die wollte ihn nicht: De Buhr ist nicht gerade ein Muskelmann.
Warum das Nürnberger Jobcenter – die gemeinsam von Sozialamt und Arbeitsagentur betriebene „Arge“ – ihm „keine passgenaue Förderung angedeihen hat lassen“, weiß auch Günther Meth nicht. Dabei leitet er das Jobcenter der Nachbarstadt Fürth. Und hier wie dort gilt „der gleichberechtigte Grundsatz fordern und fördern. Wir wollen die Leute möglichst in qualifizierende Weiterbildung bringen, am besten am Ende mit Gesellenbrief“, sagt der einstige Fürther SPD-Landratskandidat. Was bei de Buhr aber nichts genützt hätte: Der hat ja schon zwei davon.
Dennoch ist Meth überzeugt, Hartz IV wirke: „Die Arbeitslosigkeit ist doch spürbar zurückgegangen, um eine Million.“ Für Bernd Eckhardt, Berater im Ökumenischen Arbeitslosenzentrum Nürnberg (ÖAZ), ist „hat dieser Boom der letzten Jahre nichts mit Arbeitsmarktpolitik zu tun, sondern ist durch den Export generiert“. Hartz IV sei ohnehin nur dafür da, Deutschland auf die globalisierte Wirtschaft umzustellen und „den arbeitenden Menschen dafür zu verändern“.
„Größte Unmenschlichkeit, die man Menschen antun kann“
Inge Hannemann sieht in dem System, auch Arbeitslosengeld II (ALG II) genannt, gar schlicht „die größte Unmenschlichkeit, die man Menschen antun kann“. Auch sie kennt sich damit sehr gut aus, war einige Jahre selbst Vermittlerin beim Jobcenter Hamburg. Bis sie sich weigerte, ihre „Kunden“ – so werden Arbeitssuchende heute dort genannt – zu disziplinieren. Also: Streichen eines Teils des ALG II-Satzes.
Hannemann spricht von „völliger Fehlsteuerung: Menschen werden nicht mehr gefördert. Die Vermittler müssen den 1-Euro-Job überwachen oder die Wohnung der Betroffenen. Aber für mich zählt die Menschlichkeit.“ Heute ist sie Linken-Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft und fordert dort ALG II-Verbesserungen.
Und die sind nicht nur im Norden notwendig, meint Bernd Eckhardt. So würde sein ÖAZ „gerne mit dem hiesigen Jobcenter kooperieren. Geht nicht: Es gibt keine bekannten Telefonnummern“, weder für ihn, noch für die Arbeitssuchenden. Außerdem müssten sich die wenigen ÖAZ-Mitarbeiter mehr mit der häufigen Kürzung oder zu späten Überweisung des Hartz IV-Regelsatzes sowie Rechtsfragen wegen fehlerhafter Bescheide beschäftigen, als wirklich zu Jobthemen zu beraten, sagt er.
Das ist laut Günther Meth in seinem Jobcenter anders: „Wir arbeiten vernetzt mit Bewährungshelfern und Jugendamt, kooperieren zum Beispiel mit Wohnungsbaugesellschaften. Wir bezahlen in der Regel pünktlich, kürzen selten, und zu über 90 Prozent der Bescheide gibt es keine Kritik.“ Dem hält ver.di-Mann Ulli Schneeweiß einen 38-Seiten-Bescheid aus Fürth entgegen, so komplex, dass ihn der Betroffene gar nicht verstehen könne. Der Mitveranstalter: „Ein Kommunikationsproblem.“
Regelsatz kürzen verstößt gegen Menschenrechte
Ein Kürzen des Regelsatzes verstoße ohnehin gegen die Menschenrechte, gibt Tom de Buhr zu bedenken. Die zurzeit 399 Euro seien das Existenzminimum, das jedem Menschen zustehe. Kürzung sieht Inge Hannemann als reines Druckmittel: „Wenn ich die Sanktionen nicht mehr habe, können wir die Leute nicht in den Billiglohnsektor bringen. Das stammt von Gerhard Schröder“, dem Miterfinder von Hartz IV.
Außerdem, so Hannemann, verstoße das ALG II auch gegen Artikel 12 des Grundgesetzes: Jeder Mensch habe das Recht, sich einen Beruf auszusuchen. Dieser Grundgesetz-Artikel ist für Günther Meth dagegen „vor allem für junge Leute gedacht“, und Sanktionen hülfen, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Doch „werden beispielsweise nie Akademiker als Hilfsarbeiter vermittelt“. Was zum lauten Murren unter dem meist arbeitssuchenden Publikum führt.
Meths Hinweis, ALG II werde ja „von Steuerzahlern finanziert“ brandmarken die Gäste als „Bildzeitungsniveau“: Die meisten Langzeitarbeitslosen hätten vorher lange Zeit selbst in die Sozialkassen gezahlt. Andererseits habe der Staat „mit Hilfe der Steuerzahler die Zockerbanken gerettet. Die werden nicht sanktioniert, wir aber schon.“
„Nicht vergnügungssteuerpflichtig“: Was Jobcenter-Chef Meth über die Arbeit seiner Berater sagt, trifft an diesem Tag auf seine Aufgabe selber zu: Er steht auf verlorenem Posten. Dennoch sei es wichtig gewesen, „ins Gespräch gekommen zu sein und im Gespräch zu bleiben“, wie es Siegfried Grillmeyer ausdrückt, der CPH-Akademieleiter und Hausherr an diesem Abend. Oder in den Worten von Oscar Wilde: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Hoffnung bei Hartz IV?
(Heinz Wraneschitz)
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