Wirtschaft

Plakative Gemeinsamkeit: Langjährige Mitarbeiter der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. erinnern sich nicht, dass die bayerische Wirtschaft je zuvor so geballt aufgetreten ist wie bei ihrer Pressekonferenz zur Arbeitszeitkampagne. (Foto: ibw – Informationszentrale der Bayerischen Wirtschaft)

12.05.2017

Mehr Spielraum für Wochenend- und Schichtarbeit

Arbeitszeitgesetz: Mit Forderungen nach mehr Flexibilität gehen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Bayern Hand in Hand

Mit einer Arbeitszeitkampagne tritt die bayerische Wirtschaft in so geballter Form wie kaum je zuvor auf: 31 Verbände fordern vom deutschen Gesetzgeber mehr Flexibilität. Dabei demonstrieren viele Unternehmen und ihre Mitarbeiter auffallende Einigkeit – obwohl von Gewerkschaftsseite auch ganz andere Töne laut werden. Die Bundesregierung zeigt eine gewisse Aufgeschlossenheit für die Wünsche. Doch für Änderungen gibt es bisher nur eine Experimentierphase. Es klingt alles erstaunlich nach Übereinstimmung. Flexiblere Arbeitszeiten hat die Gewerkschaft IG Metall am Tag der Arbeit gefordert. Das scheint bestens zu einer groß angelegten Kampagne zu passen, mit der die bayerischen Arbeitgeber wenige Tage zuvor begonnen haben: Sie werben ebenso „für eine flexible Arbeitszeitgestaltung“, sagt Alfred Gaffal, der Präsident der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.

Eine neue Eintracht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern? Noch viel mehr entsteht dieser Eindruck, wenn man sich die vbw-Arbeitszeitkampagne ein wenig näher anschaut. Mitarbeiter von Unternehmen aus allen möglichen Branchen scheinen bereit gewesen zu sein, für diesen Zweck sogar ganz persönlich mit Fotos und Filmen in der Öffentlichkeit aufzutauchen. Auf Plakaten kann man sie seit Ende April in ganz Bayern sehen, auf Online-Bannern, in Broschüren, ja sogar auf Bierfilzln – immer mit demselben Plädoyer: „So möchte ich arbeiten!“

Mehr Flexibilität


Gemeint ist viel mehr Flexibilität, als es mit dem Arbeitszeitgesetz zurzeit erlaubt ist. Die Arbeitszeitregelungen passten nicht mehr zur wirtschaftlichen Realität, argumentieren die Arbeitgeber und berufen sich dabei auch besonders auf ihre Mitarbeiter, die es genau so sähen.

Konkret wird unter anderem verlangt, die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal zehn Stunden aufzugeben. Der Spielraum der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie müsse voll ausgeschöpft werden – und die sehe eine wochenbezogene Betrachtung mit einer maximalen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vor. Abgeschafft werden soll außerdem die bisher geregelten elfstündige tägliche Mindestruhezeit zwischen Arbeitsende und dem Beginn der Arbeit am nächsten Tag. Sogar eine Internet-Homepage mit dieser Forderung ist mittlerweile online: www.so-moechte-ich-arbeiten.de. Bis zur Bundestagswahl am 24. September soll die Kampagne laufen, bei der die bayerische Wirtschaft Flagge zeigt wie selten zuvor: 31 Mitgliedsverbände der vbw nehmen teil.

Aber so ganz komplett ist die neue Einigkeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dann doch nicht. Trotz der von allen Seiten erhobenen Forderungen nach mehr Flexibilität werden von Gewerkschaftsseite Behauptungen vorgebracht, die Mehrzahl der Arbeitnehmer sei für eine Beibehaltung des Arbeitszeitgesetzes. Ganz offensichtlich gibt es also recht unterschiedliche Ansichten zwischen Gewerkschaften und nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten.

Der weltweiten Vernetzung Rechnung tragen


Den Arbeitgebern wird von Gewerkschaftsseite vorgehalten, sie versuchten doch nur längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Dies wiederum bestreiten die Arbeitgeber energisch. Nicht um die Erhöhung des Arbeitszeitvolumens gehe es, sondern darum, dieses flexibler als heute zu verteilen, sagt vbw-Präsident Gaffal. In Zeiten weltweit vernetzter Kommunikation müsse es möglich sein, auch abends kurze Telefonate zu führen oder eine Mail zu verschicken, „ohne dass die elfstündige Ruhezeit von neuem zu laufen beginnt.“

Mittlerweile ist bei dieser Gelegenheit auch ein Kampf der Meinungsforscher entbrannt. Die Arbeitgeber fühlen sich durch eine Umfrage der Verbände der bayerischen Metall- und Elektroindustrie (bayme vbm) gestützt: Danach empfinden sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer dieser Branche in Bayern die aktuelle Gesetzeslage als zu unflexibel. 86 Prozent der Unternehmen und 76 Prozent der Arbeitnehmer befürworteten die Aufhebung der tagesbezogenen Zehn-Stunden-Grenze. Ähnliche Umfrageergebnisse gibt es aus anderen Regionen, so vom baden-württembergischen Arbeitgeberverband Südwestmetall.
Komplett anders klingen jedoch Befragungen von Beschäftigten, mit denen die IG Metall argumentiert: Danach lehnen es mehr als 96 Prozent der Arbeitnehmer ab, Beschränkungen der Arbeitszeit abzuschaffen. Sie wollen nach Angaben der Gewerkschaft vielmehr auch künftig ein Arbeitszeitgesetz mit verbindlichen Regelungen von Maximalarbeitszeiten und Ruhezeiten haben.

Bayerische Wirtschaft nimmt die Zügel in die Hand


Das Arbeitszeitgesetz ist ein Bundesgesetz. Mit der Kampagne nimmt die bayerische Wirtschaft die Zügel in die Hand, obwohl es sich eigentlich nicht um ein rein bayerisches Thema handelt. Auch auf Bundesebene – so von den Arbeitgeberverbänden – sowie in einigen anderen Regionen gibt es in dieser Angelegenheit schon Vorstöße, aber nicht in derart geballter Form wie in Bayern.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat sich kürzlich auf einem Frühlingsfest des Deutschen Hotel- und Gaststätten-Verbands für die Wünsche aus der Wirtschaft aufgeschlossen gezeigt und angekündigt, dass er nach der Bundestagswahl für Änderungen des Arbeitszeitgesetz kämpfen werde. In einem „Weißbuch Arbeiten 4.0“ sieht das Bundesarbeitsministerium mit einer Öffnungsklausel für eine bestimmte Zeit Experimentier-Möglichkeiten für flexiblere Arbeitszeit vor.

Keine starren Regeln


Ganz starr sind die Regeln schon heute nicht. Die Ruhezeit kann beispielsweise in einigen Branchen um eine oder sogar zwei Stunden verkürzt werden, so in Krankenhäusern und Gaststätten, in Verkehrsbetrieben, in der Landwirtschaft oder der Tierhaltung – vorausgesetzt, dass es in akzeptabler Zeit einen Ausgleich gibt. Auch eine Rufbereitschaft gilt erst dann als Arbeitszeit, wenn Arbeit anfällt. Manches ist jedoch rechtlich nicht ganz klar. Das Bundesarbeitsgericht zum Beispiel hat bei einem Urteil noch nicht mal klar entschieden, ob die Tätigkeit eines Betriebsrats immer auch als Arbeitszeit zu gelten hat.

Alles viel zu starr und unverständlich, kritisiert vbw-Präsident Gaffal: „Die Praxis sieht heute ganz anders aus, als es im Arbeitsgesetz steht.“ Digitalisierung und Globalisierung veränderten die Arbeitswelt maßgeblich. Gaffal zeichnet das Bild einer „neuen Welt der Arbeit 4.0, der Industrie 4.0 und der Gesellschaft 4.0“ – mit mobile Endgeräten, neuen Produktionsabläufen, Arbeiten über Grenzen hinweg und veränderten Kundenwünsche. Immer mehr Arbeitnehmer seien unterwegs oder im Home Office tätig. Diesem gewaltigen Wandel müssten die Arbeitszeitregelungen angepasst werden – mit flexiblen Lösungen für die Wochenend- und Schichtarbeit, mehr individuellem Spielraum, Potenzialen für die spezifischen Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen, ja sogar für betriebsspezifische Anforderungen.

„Wir wollen dann da sein, wenn die Menschen uns brauchen,“ sagt Angela Inselkammer, die Präsidentin des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands. So beispielsweise, wenn die Gäste einer Hochzeit über Mitternacht hinaus feiern wollten. Da komme es nicht so gut an, wenn die Kellner ihnen erklärten: „Geht’s bittschön hoam.“ Viele weitere Beispiele werden bei der Kampagne der Arbeitgeber angeführt. „Das Oktoberfest beginnt am 17. Oktober“, sagt Christian Wenzler, der Hauptgeschäftsführer des Fachverbands Schreinerhandwerk Bayern: „Was aber, wenn eine Halle erst am 19. Oktober fertig wird?“

Abends noch ein paar Dokumente durcharbeiten


Ingolf F. Brauner, der Präsident der Vereinigung Mittelstand in Bayern (mib), erzählt die Geschichte einer allein erziehenden Buchhalterin mit einem siebenjährigen Sohn, die vormittags arbeitet, dann den Nachmittag mit ihrem Kind verbringt, abends noch ein paar Dokumente durcharbeitet und E-Mails beantwortet. Sie ist zufrieden, ihr Arbeitgeber ebenso, ihr Sohn erst recht – aber ein gewichtiges Problem gibt doch: „Sie hält ihre elfstündige Pausenzeit nicht ein.“ Angela Inselkammer berichtet von einer in Teilzeit arbeitenden Büroangestellten, die am Wochenende in einer Bar etwas dazu verdient.

„Am liebsten würde sie jeden Freitag von 18 bis 24 Uhr aushelfen – aber das Arbeitszeitgesetz sagt: Geht nicht!“ Denn sie habe zuvor bereits von 9 bis 14 Uhr im Büro gearbeitet. Arbeit von sechs Uhr morgens bis 22 Uhr, nicht selten auch bis nach Mitternacht sei auf Campingplätzen keine Seltenheit, sagt Gaby Reichart, die zweite Präsidentin des Landesverbands der Campingwirtschaft in Bayern.
Martin Wunderlich vom Bayerischen Bauernverband bringt es so auf den Punkt: „Geerntet werden muss dann, wenn die Früchte reif sind und nicht, wenn es die Regelungen im Arbeitszeitgesetz zulassen.“ Thomas Stangl, Hauptgeschäftsführer des Arbeitsgeberverbands für die Land- und Forstwirtschaft in Bayern, formuliert es so: „Die Tiere im Stall haben keinen Sonntag.“

Mit ganz praktischen Anforderungen argumentiert auch Markus Wahl vom Bayerischen Industrieverband Baustoffe, Steine und Erden: Betoniert werden könne nur „frisch in frisch“. Sei zum Beispiel mit den Arbeiten an einer Bodenplatte begonnen worden, dann sei eine Unterbrechung nicht möglich: „Hat der Mischanlagenführer des Transportbetonherstellers seine tägliche Höchstarbeitszeit fast erreicht, muss der Unternehmer alle weiteren Aufträge an die Konkurrenz abtreten.“

Transportbranche: viel Arbeit an Wochenenden


In der Transportbranche falle oft viel Arbeit an Wochenenden und Feiertagen an, sagt Heinrich Doll, der Präsident des Landesverbands Bayerischer Spediteure. Auch zu solchen Zeiten oder an Abenden müssten Container und Lkws be- und entladen werden. Abrufbereit müssen solche Unternehmen sein, argumentiert Hans Ach, der Vizepräsident des Landesverbands Bayerischer Transport- und Logistikunternehmen: „Wenn der Transport nicht dezentral funktioniert, kann die Wirtschaft nicht laufen.“

Kaum irgendwo sei der Personalbedarf größer als in der Pflegebranche, sagt Kai A. Kasri, Präsidiumsmitglied des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste: Bis 2030 werde die Zahl der derzeit Pflegebedürftigen allein in Bayern von derzeit 330.000 auf 500.000 Menschen steigen. Er selbst habe in seinem Betrieb im Berchtesgadener Land schon Mitarbeiter an Firmen im nahen Österreich verloren habe, weil es dort keine solchen Beschränkungen gebe.

Thomas Arl, Hauptgeschäftsführer der Bayerischen Papierverbände, verweist auf zahlreiche Zulieferungen für Unternehmen mit Online-Betrieb, so beispielsweise Verpackungen: „Alle Kunden wollen die Lieferungen so schnell wie möglich erhalten.“

Kundeninteresse im Fokus


Mit dem Kundeninteresse argumentiert auch Silke Wolf, die Geschäftsführerin des Bayerischen Bankenverbands. Besonders gefragt seien die Zeiten am Morgen und am frühen Abend. Den Mitarbeitern sollten halt lange Mittagszeiten angeboten werden, so werde gelegentlich argumentiert. „Das ist unbeliebt“, sagt sie dazu. Auch dem internationalen Wettbewerb in der Finanzwirtschaft wird das deutsche Arbeitsgesetz nach ihren Worten nicht gerecht: Bei den amerikanischen Banken gebe es keine Probleme, einen eiligen Kreditantrag quasi über Nacht zu bearbeiten und ihm dem Kunden dann am Morgen zu präsentieren: „Oft genug haben deutsche Banken dann das Nachsehen.“

Die Fahrten zum Arbeitsplatz gelten hier als Arbeitszeit, dort als Privatsache – je nach Tarifvertrag und sonstigen Regelungen. Beim Fahrer einer Mitfahrgemeinschaft sei es auf jeden Fall Arbeitszeit, sagt Lothar Platzer, Geschäftsführer Sozial- und Tarifpolitik beim Landesverband Bayerischer Bauinnungen – und auf der Baustelle müsse diese Zeit dann abgezogen werden.

Ob die Regeln wohl wirklich alle so streng eingehalten werden? Keineswegs – daraus wird bei den Arbeitgebern überhaupt kein Geheimnis gemacht. Aber hin und wieder scheint die Einhaltung der Gesetze von den Behörden durchgesetzt zu werden. „Die Gewerbeaufsicht“, sagt Wenzler, „hat schon Messeaufbauten zugesperrt.“
(Lorenz Goslich)

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