Wirtschaft

Gohar Kutsanyan macht ein Praktikums bei Siemens. Die 23-Jährige ist mit ihrer Familie aus ihrem Armenien geflüchtet und lebt seit zwei Jahren in Erlangen. (Foto: dpa)

28.07.2015

Nicht mehr zum Nichtstun verdammt

Unternehmen und Hochschulen entdecken qualifizierte Flüchtlinge: Viele haben in ihrem Heimatland Abitur gemacht und ein Studium begonnen

Sie haben eine super Ausbildung und sind in Deutschland trotzdem zum Nichtstun verdammt. Solange das Asylverfahren läuft, haben Flüchtlinge kaum Chancen auf einen Job oder ein Praktikum. Zwar dürfen sie inzwischen nach drei Monaten arbeiten - aber nur, wenn sich für die Stelle kein geeigneter EU-Bewerber findet. Unternehmen schrecken wegen dieser rechtlichen Hürden häufig davor zurück, Flüchtlingen eine Chance zu geben. Und doch finden sich inzwischen Projekte, die genau diese Zielgruppe ansprechen - Menschen im Asylverfahren. Auch Universitäten stellen sich darauf ein und bieten ein Schnupperstudium für Flüchtlinge. 

Die Wirtschaft fordert seit Monaten, Asylbewerbern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Gut ausgebildete Flüchtlinge sollen nicht länger untätig in Flüchtlingsheimen herumsitzen. Siemens etwa bietet in Erlangen Praktika für qualifizierte Flüchtlinge an. "Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung. Wir wollen Erfahrungsmöglichkeiten bieten - auch für Flüchtlinge", sagt Unternehmenssprecher Heinz Brenner. Sechs dieser Praktika hat Siemens bislang vergeben, bis Ende des Jahres sollen es zehn werden.

Integration durch Arbeit   

Diese Chance genutzt hat Gohar Kutsanyan. Die 23-Jährige ist mit ihrer Familie aus Armenien geflüchtet, seit zwei Jahren lebt sie in Erlangen. Eines Tages bekam sie einen Anruf von der Stadt. Die Flüchtlingsberatungsstelle suchte geeignete Praktikanten für das Projekt bei Siemens. "Ich wusste gar nicht, dass ich mit meinem Englisch-Studium ein Praktikum bei Siemens machen kann", berichtet Gohar. Mit ihren Sprachkenntnissen half sie den Kollegen zwei Monate lang beim Erstellen von Präsentationen und in der Bibliothek der Abteilung. Unterstützt wurde sie von einer Mentorin, die ihr bei Fragen zur Verfügung stand.

Auch das Projekt "Integration durch Arbeit" soll Asylbewerber mit Aussicht auf ein Bleiberecht in Deutschland unterstützen. Erst gibt es einen Sprachkurs, dann folgen berufsbezogene Integrationskurse und Betriebspraktika. Getragen von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, dem bayerischen Arbeitsministerium und der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit stehen zunächst 120 Plätze zur Verfügung. Konkrete Erfahrungen aus dem im Mai gestarteten Projekt gibt es aber noch nicht.

Der Bildungsabschluss von Asylbewerbern wird nicht immer erfasst

Ein weiteres Hemmnis: Es wird nicht bei jedem Asylbewerber erfasst, welchen Bildungsabschluss er hat. Wer einen Asylantrag stellt, kann beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nur freiwillig Auskunft über seine Ausbildung geben. Demnach haben im vergangenen Jahr 15 Prozent der Asylsuchenden eine Hochschule besucht.

Auch deutsche Unis wollen das nutzen. "Wir müssen nicht warten, bis jemand anerkannt ist. Für uns ist die akademische Qualifikation entscheidend", sagt Brigitte Perlick vom Referat für Internationale Angelegenheiten der Universität Erlangen-Nürnberg. Neben Sprachkursen und Studienberatung bietet die Uni zum Wintersemester ein Schnupperstudium für Asylbewerber an. In zulassungsfreien Fächern können sie Vorlesungen besuchen, auch wenn ihnen die Nachweise zur formalen Aufnahme des Studiums fehlen - etwa weil sie bei ihrer Flucht ohne Papiere nach Deutschland gekommen sind. Die Motivation der Flüchtlinge ist groß. "Die wollen am liebsten in drei Jahren ihren Doktor machen", erzählt Perlick.

Die Universität Hildesheim bietet seit April ein Schnupperstudium für Flüchtlinge. "Wir sollten die Ärmsten und Fleißigsten nach Kräften fördern", sagt Präsident Wolfgang-Uwe Friedrich. Weil die Asylbewerber oft aus weiter entfernt liegenden Unterkünften zur Uni fahren müssen, erhalten sie ein kostenloses Semesterticket.  
Auch in Göttingen und Fulda gibt es der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zufolge ein Schnupperstudium. "Die Hochschulen sollen alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Flüchtlingen ein Studium zu ermöglichen", sagt Thomas Böhm von der HRK. Die Ludwig-Maximilians-Universität in München behandelt Flüchtlinge deshalb wie Austauschstudenten: Wer Hochschulreife nachweist, kann ohne Druck Lehrveranstaltungen besuchen. Die werden später auch anerkannt, wenn ein richtiges Studium beginnt.
Gohar Kutsanyan hat nach dem Praktikum bei Siemens ihr Studium fortgesetzt - einen Master in Englisch an der Uni Erlangen. "Bald werde ich eine Linguistin sein", sagt Gohar. Vielleicht findet sie damit ja später sogar mal einen Job bei Siemens. (Simon Ribnitzky, dpa)

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