Wirtschaft

07.01.2011

Tschechen werben Facharbeiter ab

Metallunternehmen in Böhmen suchen händeringend gutes Personal

Wenn im kommendem Frühsommer die letzten unsichtbaren Schranken für Arbeitnehmer und Betriebe in sieben Staaten der EU fallen, kann es gut sein, dass niemandem etwas groß auffällt: Die neue Freizügigkeit wird zu keinem Ansturm von „billigen“ Arbeitskräften führen. Alle von Berufspessimisten vor sieben Jahren noch am die Wand gemalten Schreckensbilder lösen sich in Luft auf. Vielmehr kann es zu ganz ungeahnten Entwicklungen kommen, wie bei einem Fachgespräch der grenznahen Handwerkskammern in Marienbad zu erfahren war.
Die von der Handwerkskammer Niederbayern/Oberpfalz organisierte Veranstaltung konnte schon einen sehr realistischen Blick auf die bevorstehende Entwicklung werfen. So kann es – nur um ein Beispiel herauszugreifen – durchaus sein, dass tschechische Unternehmen in Deutschland Facharbeiter gezielt abwerben. Händeringend suchen Metallunternehmen in Böhmen gut ausgebildete Facharbeiter und Meister, die mit höheren Einkommen rechnen können, als manche akademischen Berufe. Die Konzentration auf weiterführende, theoretisch ausgerichtete Schulen und der praktische Abbau betriebsnaher Ausbildungsstrukturen haben in Tschechien zu einem erheblichen Fachkräftemangel geführt. Praktiker aus der Wirtschaft wie auch die Arbeitsagenturen rechnen jedenfalls mit keinen größeren Wanderungsbewegungen. Vereinfacht gesagt: Spitzenkräfte aus Tschechien, etwa aus der Gastronomie, arbeiten schon in Deutschland oder Österreich, wenn auch gelegentlich am Rande der Legalität oder sie hat es nach Prag gezogen. Das Lohnniveau hat dort in manchen Branchen hiesige Standards erreicht. Immerhin liegt das Pro-Kopf-Einkommen der Bürger in der tschechischen Hauptstadt höher als das der Bewohner Berlins.
Auch die gelockerten Regelungen für den freien Wettbewerb dürften zu keinen großen Umwälzungen führen. Denn die Gründung von Unternehmen in den jeweiligen Nachbarländern mag aus Brüsseler Sicht vereinfacht worden sein. Ungebremste Zuneigung zur Bürokratie
Im Alltag wird sich aber schnell zeigen, dass es doch noch große Unterschiede in der jeweiligen Rechtsprechung, bei behördlichen Vorgaben und andere Hemmnissen für Unternehmensgründungen gibt. Man tritt unseren Nachbarn auch nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass ihre Zuneigung zur Bürokratie ungebremst scheint. So rechnen Experten damit, dass vor allem im Bau- und Dienstleistungsbereich zunächst mit Subunternehmen gearbeitet wird.
So gesehen dürfte sich am Zustand einer unspektakulären Nachbarschaft nichts ändern, die aber ihre Chancen nicht nutzt und in die Gefahr gerät¸ ins Abseits der großen, wirtschaftsstarken Metroregionen zu geraten. Es fehlt nicht am guten Willen oder an diversen Initiativen der Euregio, dass die grenzüberschreitenden Aktionen nur mühselig vorankommen. Denn die ganz große Grenze wurde nicht aufgehoben. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes das „Unverständnis“, die Sprachbarriere. Kaum ein Deutscher quält sich mit einem gründlichen Studium der tschechischen Sprache herum und leider lernen auch immer weniger tschechische Kinder Deutsch; Englisch erscheint dem Prager Schulministerium wichtiger. An sich ist das schade, denn für bayerische Schüler, die sich mit Tschechisch befassen, eröffnen sich interessante Berufschancen. Bei den Marienbader Gesprächen konnten sich vier junge Leute vorstellen, die in Bayern wegen eines fehlenden Schulabschlusses keine Lehrstelle fanden. Nach einem Sprachstudium im Nachbarland fanden sie dann sofort eine Ausbildungsstelle, beispielsweise in einem Autohaus, das mit deutschen Kunden rechnet. Bekannte Großbetriebe in Bayern errichten derzeit höchstmoderne Forschungswerkstätten, für die sie auch deutschsprachige Facharbeiter brauchen. Rege Nachfrage nach Mitarbeitern aus Sachsen und Bayern herrscht auch bei den marktdominierenden Bankzentralen aus Osterreich, die in Tschechien ein Oligopol besitzen.
Bei allen strategischen Überlegungen dürfen zwei EU-Planungen nie unterschätzt werden: Die großen Verkehrsadern London-Paris-Nürnberg-Pilsen-Prag und die Strecke Rom-Mailand-Klagenfurt-Linz-Budweis-Baltikum werden Handel und Wandel zwangsläufig anziehen, ohne Rücksicht auf noch bestehende Ländergrenzen.
(Karl Jörg Wohlhüter)

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