Wirtschaft

New York mit seiner Finanzbranche gilt vielen als Sinnbild des Turbokapitalismus. (Foto: dapd)

19.04.2013

Vor einer sozialen Weltrevolution?

Die Kritik am Turbokapitalismus gewinnt an Schlagkraft

Ein Gespenst geht um in der Welt der Superreichen, der rücksichtslosen Finanzhaie, der Götzendiener des Geizes: Die Wiedergeburt einer sozialen und humanen Wirtschaft und Gesellschaft, die den Alltag der Menschen deutlich verbessern könnte. Der Anstoß kam aus den USA, wie praktisch jeder Beginn eines weltweiten Megatrends. Der Initiator gilt, zumindest im angelsächsischen Raum, als der bekannteste Moralphilosoph der Gegenwart und „derzeit wohl populärste Professor der Welt“ (Zitat Die Zeit); seinen Namen darf man sich merken: Michael J. Sandel. Der Wissenschaftler (60) hat in Oxford studiert und lehrt seit 1980 in Harvard. Sein Standardwerk über Die moralischen Grenzen des Marktes erzielt in den Vereinigten Staaten und mittlerweile in vielen anderen Ländern beachtliche Verkaufserfolge und löst breite Nachdenklichkeit aus.
Sandel befasst sich nicht so sehr mit den Verwerfungen auf den Finanzmärkten, die unsere Welt an den Rand des Abgrundes geführt haben, er widmet sich vielmehr dem Ungeist dieser Entwicklung, der auch das Zusammenleben und die demokratische Gesellschaft unterwandert und ernsthaft gefährdet. So führt er einige drastische Beispiele an, verständlicherweise aus seinem Heimatland, den USA.
Es gibt dort – vor allem im Internet – Wettspiele, die nicht auf Sportergebnisse setzen, sondern vorhersagen, welche Prominente innerhalb eines Jahres sterben werden. Der Mitspieler setzt 15 Dollar ein und erstellt eine Liste „seiner Todeskandidaten“. Derjenige mit den meisten makabren Vorhersagen gewinnt den Jackpot mit 3000 Dollar.
Große Finanzinstitute, die aus der von ihnen verschuldeten Finanzkrise offenbar gleich gar nichts gelernt haben, planen nach einem Bericht der New York Times Anleihen auf den Markt zu bringen, die aufgekaufte Lebensversicherungen zu Paketen bündeln, wie ehedem die faulen Immobilienkredite, und sie mit Versprechen auf hohe Renditen an Spekulanten verkaufen. Der „Gewinn“ steigt dann, wenn die ehemaligen Besitzer der Versicherung, – die in einer brutalen Existenznot die Prämien nicht mehr bezahlen konnten – möglichst schnell das Zeitliche segnen und der Fonds das Geld einkassieren kann. Vergleichsweise harmlos sind dagegen die Angebote „armer“ Schulen, ihren Namen an Sponsoren zu verkaufen: Da können dann die Eltern stolz sagen: „Mein Kleiner geht schon auf die Viagra-High-School“.
Die Regeln des Marktes haben fast alle Lebensbereiche infiziert
In einem Vorwort wird die Kernbotschaft Sandels auf den Punkt gebracht: „Die Regeln des Marktes haben fast alle Lebensbereiche infiziert – auch jene, die eigentlich jenseits von Konsum und Mehrwert liegen sollten: Medizin, Erziehung, Politik, Recht und Gesetz, Kunst, Sport und sogar Familie und Partnerschaft.“ Da ist nach Ansicht des Wissenschaftlers Grundlegendes schief gelaufen. Und der Harvard-Professor fragt in Richtung Politik und Gesellschaft: „Wie können wir den Markt daran hindern, Felder zu beherrschen, in denen er nichts zu suchen hat?“ Im Umkehrschluss ergibt sich nämlich eine weitere Sorge. Wer schützt die Werte, die den Turbokapitalismus nicht interessieren?
Sandel gibt jedenfalls Denkanstöße – als Wissenschaftler hält er sich mit Lösungsvorschlägen zurück – gerade auch weil sich seine Gedanken an die Weltöffentlichkeit richten und es für alle Länder keine Patentlösungen gäbe. Im bettelarmen Myanmar steht das Thema „Todeswetten“ jedenfalls nicht auf der Liste der Probleme. Einiges wird jedoch allgemein erkennbar: die Rücksichtslosigkeit der Menschen untereinander, die verkümmernde Solidarität und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich mit all ihren sozialen Verwerfungen. Ein trauriges Beispiel dieser Tage ist die brutale Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa und in Nordafrika. Dort haben sich die Jugendlichen bereits gewaltsam Luft gemacht.
Bemerkenswert dabei ist, dass viele Regierungen dieser Welt die Sprengkraft sozialer Konflikte erkannt haben, auch hier mit an der Spitze die Volksrepublik China. Doch mit den herkömmlichen Mitteln lässt sich diese Fehlentwicklung nicht korrigieren. Wenn überhaupt muss ein Umbruch aus der Breite der Gesellschaft kommen.
Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Das vollmundige Versprechen, die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa wirksam zu bekämpfen, ist fast schon eine hilflose Lüge. Denn durch die Sparauflagen wird das Wirtschaftswachstum gebremst, erneut gehen Arbeitsplätze verloren. Wie soll da ein gigantisches Jobwunder geschehen. Will die EU – um ein sicher überzogenes Beispiel zu wählen – die gesamte Produktion von BMW nach Andalusien zu verlagern, um den jungen Leuten dort eine Chance zu eröffnen? Die dicht besetzten Weltmärkte geben keine nennenswerte Möglichkeiten her, neue konkurrenzfähige Industrien oder Dienstleistungen herbeizuzaubern, die plötzlich Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen.
Möglicherweise sollte man mehr auf die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft vertrauen, wie in der Gründerzeit, als Kolping oder Raiffeisen aus eigener Kraft Wege aus der sozialen Not mit großem Erfolg organisierten. Erste, sicher noch schwache Anzeichen gibt es bereits: die Gründung neuer sozialer Genossenschaften, die sich mit der Kraft der Gemeinschaft der Werte annehmen, die profitorientierte Zeitgenossen nicht interessieren. Und die Politik hätte ein breites Feld, Abschied zu nehmen von dem Glaubensgrundsatz, der Markt werde es schon richten. Die von nicht gewählten Bürokraten geplante Privatisierung der gesamten Wasserwirtschaft könnte zur Nagelprobe werden.
Jedenfalls: Der Nachtwächterstaat – der nach der ökonomischen Theorie tagsüber schlafen soll und nur in der Dunkelheit darauf zu achten hat, dass kein Besitz zu Schaden kommt - hat auf der ganzen Linie versagt und er kann noch viel Unheil anrichten. (Karl Jörg Wohlhüter)

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