Der Fachkräftemangel ist in manchen Branchen inzwischen so gravierend, dass die Wirtschaft ernsthaft überlegt, Langzeitarbeitslose via Teilqualifizierung auch im IT-Sektor einzusetzen. Das wurde vor Kurzem bei einem Kongress der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. in München deutlich. Dort zog man eine positive Zwischenbilanz nach 13 Jahren Sozialgesetzbuch II (SGB II) – dem Volksmund besser bekannt als Hartz IV.
Teilqualifizierung vorantreiben
„Bislang ist es noch nicht gelungen, die Ausbildung in den IT-Berufen so zu zerlegen, dass auch Langzeitarbeitslose, die sich nach so einer großen Auszeit schwer tun, Neues zu erlernen, eine Chance haben“, sagte vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt selbstkritisch. Was in anderen Branchen bereits Erfolge zeige, müsse dringend auch im IT-Bereich gelingen. Denn dort sei die Nachfrage nach Arbeitskräften am größten. Laut Brossardt hat die vbw bereits 180 Millionen Euro aus eigenen Mitteln in die Teilqualifizierung von Langzeitarbeitslosen gesteckt. „Das geht auch weiter“, betonte er.
„Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende Anfang 2005 ist es gelungen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die zuvor nur geringe Vermittlungschancen hatten“, erklärte der vbw-Hauptgeschäftsführer.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll Hilfsbedürftigkeit verringern oder beenden, insbesondere durch Eingliederung in Arbeit. Zwischen 2005 und 2017 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen um über eine Million gesunken. Mit Sorge sieht die vbw aber, dass der weitere Abbau der Arbeitslosigkeit in diesem Bereich zuletzt nicht mit der außerordentlich positiven Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts Schritt gehalten hat. „Dies gilt vor allem für die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit“, so vbw-Hauptgeschäftsführer Brossardt.
Die vbw fordert, dass der Grundsatz des „Förderns und Forderns“ bestehen bleibt. „Damit einhergehen müssen strukturelle Änderungen und eine ambitionierte Weiterentwicklung des SGB II. Prioritär ist, dass die Mittelausstattung der Jobcenter verbessert wird. Außerdem müssen Fehlanreize beseitigt werden. So sind zum Beispiel die Hinzuverdienstmöglichkeiten im SGB II so zu reformieren, dass sie auf die schrittweise Aufnahme einer Vollzeittätigkeit zielen. Darüber hinaus sind Verwaltungsvereinfachungen erforderlich. Die Ankündigungen im Koalitionsvertrag reichen hier nicht aus“, sagte Brossardt.
Eine Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung, etwa im Wege eines „Solidarischen Grundeinkommens“ lehnt die vbw ab. „Stattdessen muss die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelingen“, sagte Brossardt.
Die vbw warnt davor, dem Arbeitsmarkt weitere Flexibilität zu rauben. „Befristungen, Teilzeit und Zeitarbeit sind Sprungbretter in Beschäftigung – gerade für Personen, die sich bisher am Arbeitsmarkt schwergetan haben. Umso unverständlicher ist die im Koalitionsvertrag vorgesehene Einschränkung von befristeten Arbeitsverhältnissen“, sagte Brossardt.
Um mehr Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen, sind laut Professor Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), spezielle Instrumente nötig. Besonders der fatale Mechanismus von Dequalifikation, Demotivation und Desintegration sei aufzubrechen. „Auch die Zuverdienstmöglichkeit muss geändert werden. Denn der Zuverdienst wird zu 80 Prozent auf die Leistungszuwendung angerechnet. Das ist nicht gut“, so Möller. Gerade besonders „arbeitsmarktferne Personen“ bräuchten viel Beratung und Unterstützung. Die könne die Arbeitsvermittlung aber nicht leisten, weil in den letzten Jahren die Mittel stark gekürzt wurden.
Betroffene in Betriebe eingliedern
Ganz konkrete Vorschläge unterbreitete Heinrich Alt, der ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA): „Rund 200.000 der Langzeitarbeitslosen sind Alkoholkranke oder haben eine psychische Erkrankung. Die gehören nicht ins Jobcenter, sondern in die Sozialhilfe der Kommunen.“ Da dies aber finanziellen Mehraufwand für Städte und Gemeinden bedeutet, müsse der Bund hier mehr Mittel bereitstellen.
Auch die Instrumente des SGB IX, also Maßnahmen für die Eingliederung von Menschen mit Behinderung, könnten Alt zufolge auch für Langzeitarbeitslose gut geeignet sein. So sei eine Arbeitsassistenz am Arbeitsplatz genauso sinnvoll wie ein Minderleistungsausgleich für die Betriebe. „Das darf aber den Unternehmen, die einen Langzeitarbeitslosen einstellen, nicht nur ein halbes Jahr gewährt werden“, so der einstige BA-Chef. Es müsse ein dauerhafter monetärer Ausgleich her, bis die Betroffenen wieder voll leistungsfähig sind.
Denn so ein Langzeitarbeitsloser sei nicht innerhalb kurzer Zeit wieder von Null auf Hundert. „Wer ein Jahr arbeitslos war, braucht in der Regel ein halbes Jahr, um wieder volle Leistung erbringen zu können.“ Deshalb brauche es auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement, damit Frustrationen auf beiden Seiten – also bei Arbeitgeber und Arbeitnehmer – vermieden werden.
Ein weiterer Punkt von Alt betrifft die Kosten der Unterkunft: „Wenn die Mieten steigen, juckt das weder der Grundsicherungsempfänger noch den Vermieter. Denn das wird auf dem Rücken des Steuerzahlers ausgetragen.“ Alt schlägt deshalb eine Mietpauschale vor, mit der der Betroffene wirtschaften und eventuell auch einmal in eine günstigere Wohnung umziehen müsste.
Ebenfalls auf Unterkunftskosten rekurriert Alts nächste Idee. So müssten Lebensgemeinschaften anders berücksichtigt werden. Denn wenn heute eine Langzeitarbeitslose und ein Langzeitarbeitsloser zusammenziehen, müssten sie auf monatlich 250 Euro verzichten. Das wollen sie nachvollziehbarer Weise nicht und blockieren somit eine Wohnung mehr, nur um nicht auf das Geld verzichten zu müssen. „Wenn man das auflöst, bekommt man auch in München etliche Wohnungen frei“, so Alt.
Personalfluktuation in Jobcentern abbauen
Um Langzeitarbeitslosen eine Jobperspektive geben zu können, sollte laut Alt auch die hohe Personalfluktuation in den Jobcentern abgebaut werden. Denn durch den ständigen Wechsel könne keine qualifizierte Beratung aufgebaut werden.
Auch die Kommunen könnten dazu beitragen, die Langzeitarbeitslosigkeit zu senken, so der ehemalige BA-Chef. Allein die Stadt Nürnberg habe in Verwaltung und kommunalen Beteiligungsunternehmen rund 7000 Angestellte. „Es ist ja klar, dass die Chefarztstelle nicht mit einem Langzeitarbeitslosen besetzt werden kann. Aber derjenige, der das OP-Besteck herrichtet, muss keine Top-Qualifikation vorweisen“, erläuterte Alt. Wenn Städte und Gemeinden ihre Personalämter entsprechend aufstellen und verpflichten würden, könnten wesentlich mehr Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit kommen.
(Ralph Schweinfurth)
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