Wirtschaft

Pro Jahr gehen in der EU rund 200.000 Unternehmen pleite. (Foto: Bilderbox)

26.05.2017

„Zu schuldnerfreundlich“

Bayerische Wirtschaft, DGB und Insolvenzverwalter warnen vor geplanter EU-Insolvenzrechtsrichtlinie

Es ist ein löbliches Ziel, das sich die Europäische Kommission gesetzt hat: Geschäftsleuten solle „endlich eine zweite Chance eingeräumt werden“, sagte die für Justiz zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova bereits Ende 2016 bei der Vorstellung der Brüsseler Pläne für ein neues Insolvenzrecht.

Fakt ist: Jährlich gehen in der EU rund 200.000 Unternehmen pleite. „Wir sind überzeugt, dass viele davon durch effizientere Insolvenz- und Umstrukturierungsverfahren vermieden werden könnten“, rechtfertigt deshalb ein Kommissionssprecher die angedachte Reform. Der Kommissionsvorschlag sieht beispielsweise die Schaffung eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens vor. Brüssel will überschuldeten Firmen zudem eine „Atempause“ von mehreren Monaten gewähren, in denen die Firmen vor den Forderungen der Kreditgeber geschützt sind.

Massive Kritik aus Deutschland

Doch aus Deutschland kommt massive Kritik. Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft kritisiert zentrale Punkte der geplanten Reform scharf. Diese seien zu schuldnerfreundlich. Und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lehnt in einem der Staatszeitung vorliegenden Positionspapier zentrale Punkte der angedachten Reform ab. Insolvenzverwalter warnen sogar vor einer Pleitewelle, bei der viele Arbeitsplätze verloren gehen würden – auch das Bundesjustizministerium hält die Pläne in Teilen für problematisch.

Axel Bierbach, der im Verband Insolvenzverwalter Deutschlands (VID) den Bereich Internationales betreut, hält ebenfalls wenig von der neuen Richtlinie: Er sieht „große Probleme, die die Richtlinie verursachen könnte“. Brüssel wolle mit einem in Europas Wirtschaft seit zwei Jahrtausenden gültigen Prinzip brechen. „Das lautet: Wer zahlungsunfähig oder überschuldet ist, darf nicht mehr ohne gerichtliche Aufsicht weiter wirtschaften – sonst verliert der Markt das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Marktteilnehmer.“

Zulieferer wären gezwungen an Überschuldete zu liefern

Doch künftig würden Zulieferer gezwungen werden, weiter an überschuldete Unternehmen zu liefern, ohne dass dies überwacht werde, so der VID-Experte: „Es drohen Folgeinsolvenzen bei den so in die Pleite hineingezogenen Lieferanten. Durch die Pleiten könnten so viele weitere Arbeitsplätze verloren gehen.“

Konkret kritisiert er: „Unternehmen bekommen im EU-Modell vier bis zwölf Monate lang einen massiven Schutz vor Gläubigern. Und das, obwohl niemand prüft, ob sie schon insolvent sind – und wenn ja, ob überhaupt eine realistische Chance besteht, dass das Unternehmen wieder auf die Beine kommt.“
Bierbach fürchtet: Viele insolvente Unternehmen könnten dies für sich nutzen.“ Da bestehe „eine erhebliche Missbrauchs-Gefahr zu Lasten der Gläubiger und aller Marktteilnehmer“.

Bislang sei in Deutschland der Insolvenzverwalter dafür zuständig, zu entscheiden, ob eine überschuldete Firma sich weiter Waren beschaffen dürfe. „Als neutrale und gerichtsnahe Instanz kann er beurteilen, ob das Sinn macht. Und die Zulieferer wissen, dass er nur weiter bei ihnen bestellt, wenn es auch realistisch ist, dass sie auch das Geld dafür bekommen.“

Den EU-Plänen zufolge brauche der Unternehmer lediglich einen Berater, der ihm einen Restrukturierungs-Plan entwirft, erläutert Bierbach: „Diesen kann sich der Firmenchef selbst aussuchen. Ein Gericht müsse den Pan dann innerhalb von 30 Tagen genehmigen.“

Aus Sicht des Top-Verwalters sei dies „ein Witz“. Die Materie sei in solchen Fällen in der Regel viel zu komplex, als dass sie die überlasteten Insolvenzgerichte in der kurzen Zeit „ausreichend überprüfen könnten“.

Setze die Bundesregierung die EU-Richtlinie eins zu eins um, würden in der Folge Unternehmen weitergeführt, die eigentlich nicht zu retten seien. „Und bei Firmen, die man eigentlich retten könnte, gehen so wertvolle Zeit und vor allem Ressourcen verloren.“

Auch die Zulieferer würden leiden. „Sie müssen, wenn der vom Gericht genehmigte Restrukturierungsplan vorliegt, auch ohne Liquiditäts-Garantie liefern. Ein Verwalter dagegen überprüft, ob überhaupt noch Geld da ist“, weiß Bierbach.

Es drohen massive Pleitewellen

Prinzipiell gelte: In Deutschland seien die Insolvenzverwalter den Interessen aller Gläubiger und auch dem Erhalt von Arbeitsplätzen verpflichtet. „Die EU-Richtlinie sieht dagegen vor, dass Groß-Gläubiger auch ohne eine Mehrheit aller Gläubiger selbst einen Entschuldungsplan durchsetzen können.“ Bierbach warnt, diese könnten sich so „Vorteile verschaffen, um mehr Geld rauszubekommen als andere Gläubiger“.

Die Gerichte könnten solche Restrukurierungspläne zwar theoretisch ablehnen. In der Praxis werde dies aber oftmals aufgrund mangelnder personeller und zeitlicher Kapazitäten scheitern, so Bierbach. Ein großer Verwalter warnt sogar vor einer „drohenden massiven Pleitewelle“.

Und auch Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., beurteilt zwar die „europaweite Harmonisierung der Regeln zu Restrukturierung und Insolvenz sowie die angestrebte Optimierung der Insolvenzverfahren in der EU „grundsätzlich positiv“. Allerdings seien „die vorgeschlagenen Regelungen sehr schuldnerfreundlich, während die Schutzinteressen der Vertragspartner ausgehöhlt werden“.

Brossardt: „Außerdem kritisieren wir, dass Insolvenzverfahren zu spät eingeleitet werden und dass keine ausreichende Transparenz über die Sanierungschancen eines Unternehmens besteht.“ Hier müsse nachgebessert werden. „Denn die neuen EU-Regeln werden auch auf das jeweilige nationale Insolvenzrecht Auswirkungen haben.“

Arbeitnehmervertreter lehnen die EU-Pläne ebenfalls ab. So heißt es in einem aktuellen Papier des DGB-Bundesvorstands: Die Einführung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren, um Arbeitsplätze zu retten, sei zwar „grundsätzlich im Interesse der Beschäftigten“. Doch der Gewerkschaftsbund sieht drohende Probleme: „Die im Richtlinien-Vorschlag enthaltene Einbeziehung von Arbeitnehmerforderungen in die Restrukturierungspläne ermöglicht Eingriffe in Ansprüche der Beschäftigten durch Gläubigerabstimmungen und deren gerichtliche Bestätigung.“

Die Gewerkschaften fürchten zudem, dass, wenn sich die Kommission durchsetzt, künftig die Beschäftigten bei Pleiten häufiger um ihnen zustehende Gelder und Leistungen, etwa für offene Überstunden, gebracht werden könnten. Der Gewerkschaftsbund hält es auch für möglich, dass künftig Arbeitnehmerrechte in Krisenunternehmen mit gerichtlicher Zustimmung ausgehebelt und so die Tarifautonomie umgangen werden könnte. Die Belegschaftsvertreter fürchten auch eine „Super-Priviligierung“ von Finanzkrediten vor allen anderen Gläubigern, auch vor den Arbeitnehmern. „Es besteht damit die ernste Gefahr, dass im Falle einer Folgeinsolvenz für eine Fortführung des Unternehmens oder Betriebs oder wenigstens einen Sozialplan keine Insolvenzmasse mehr übrig bleibt“, heißt es im DGB-Positionspapier.

Nicht zur Verschleppung von Insolvenzen einladen

Das SPD-geführte Bundesjustizministerium hofft, dass Parlament und Europäischer Rat noch Änderungen dursetzen. Dort wird gerade über die Reform verhandelt. Ansonsten wolle man hart um deren Umsetzung mit Brüssel verhandeln. „Nicht sanierungsfähige Unternehmen sollten nicht zu erfolglosen und insolvenzverschleppenden Restrukturierungsversuchen eingeladen werden“, sagt eine Ministeriumsprecherin. Dabei stehe „der Schutz von besonders schutzwürdigen Beteiligten, wie etwa Arbeitnehmern, besonders im Fokus“. (Tobias Lill)

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