Bauen

Das Doppelwohnhaus von Gustav Lilienthal in der Paulinenstraße. (Foto: Ursula Wiegand)

26.08.2020

Ein Parcours durch die Gründerzeit-Architektur

Berlin-Lichterfelde bietet eine Vielzahl interessanter Bauwerke

Nach Lichterfelde zu fahren, um feine Villen und Bauten aller Art zu bestaunen – das war schon vor rund 120 Jahren der Sonntagsausflug der im Zentrum wohnenden Berliner. Wo sich zuvor Felder erstreckten, entstand in der Gründerzeit eines der schönsten Villenviertel Deutschlands.
Die Initiative hatte der Kaufmann Johann Anton Wilhelm von Carstenn (1822 bis 1896) ergriffen, Sohn eines holsteinischen Gutsbesitzers. 1854 hatte er das Gut Wandsbek bei Hamburg gekauft und es nach englischem Vorbild in eine Villenkolonie verwandelt. Ähnliches wollte er im schnell wachsenden Berlin vollbringen. Also verkaufte er Wandsbek und erwarb 1865 mit dem Erlös die Güter Lichterfelde und Giesensdorf im Südwesten Berlins.

Auch ein Bahnanschluss musste her. 1868 wurde der heutige Bahnhof Berlin-Lichterfelde Ost eröffnet. Ab 1881 fuhr dort sogar die von Siemens & Halske entwickelte erste elektrische Straßenbahn der Welt. 1872 war auch der Bahnhof Lichterfelde West fertig. Dort fährt nun die S-Bahn durch Berlins Mitte bis nach Oranienburg im Nordosten. Das Bahnhofsgebäude im Tudorstil ist ebenso erhalten wie die denkmalgeschützten Bauten auf dem lebhaften Vorplatz. Hingucker ist das zwischen 1892 und 1895 errichtete, aufwendig dekorierte Emisch-Haus, geplant von Willy Sander. Nach wie vor befindet es sich im Familienbesitz.

Vom Bahnhof führt der Kadettenweg – vorbei an Villen und sonstigen Wohnbauten – zur Kadettenanstalt. Diese ehemalige Preußische Haupt-Kadettenanstalt wurde zwischen 1871 und 1878 errichtet. Anbauten erfolgten 1937/38. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dort amerikanische Soldaten stationiert, heute beherbergt der Großbau das Bundesarchiv.

Carstenn hatte den 20 Hektar messenden Baugrund 1871 dem preußischen Militär geschenkt, um seine Villenkolonie auf diese Weise bekannter zu machen. Namen wie Gardeschützenweg und Kommandantenstraße erinnern an die Präsenz des preußischen Militärs.

Carstenns Schenkung wurde für ihn selbst zum Desaster, hatte er doch unentgeltlich auch für den Transport der Baumaterialien zu sorgen. Das und der Gründerkrach von 1873 trieben ihn in den Ruin. Mit herben Verlusten musste er zahlreiche Grundstücke verkaufen. Verarmt und nervenkrank starb er 1896 in einem Krankenhaus in Berlin-Schöneberg. Dennoch ist die von ihm geschaffene Villenkolonie ebenso erhalten wie sein goldgelbes, klassizistisches Gutshaus am Schlosspark Lichterfelde, das sogenannte Carstenn-Schlösschen, das nun vom Bezirksamt für kulturelle Zwecke genutzt wird.

Leuchtend rot

Nach ihm benannt wurde die Carstennstraße, die in der 2300 Meter langen, von hohen Kastanien gesäumten Ringstraße ihre Fortsetzung findet. Wie auf einer Perlenkette reihen sich dort stattliche Gebäude, um 1900, in nur einem bis zwei Jahren Bauzeit errichtet. Keineswegs nur Villen, sondern auch Doppelwohnbauten und Mietshäuser.

Viele von ihnen stehen auf der ellenlangen Denkmalliste von Berlin-Lichterfelde, auch die Johanneskirche von 1914, entworfen von Otto Kuhlmann. Leuchtend rot schimmert in der Ringstraße 2-3 das Lilienthal-Gymnasium von 1896, konzipiert von Heinrich Theising, benannt nach dem Flugpionier Otto Lilienthal, der bei seinen Flugversuchen nahe Berlin tödlich verunglückte.

Sein Bruder, Gustav Lilienthal (1849 bis 1933) – ebenfalls vom Fliegen begeistert –, studierte aber Architektur in Berlin. Von den 30 Häusern, die er in Lichterfelde errichtete, sind 22 erhalten. Die in der Paulinenstraße, entstanden 1894/95, erinnern mit ihren Zinnen und Türmchen an Mittelalterbauten. Diese Lichterfelder Burgen, wie sie genannt werden, sind jedoch vom englischen Tudorstil inspiriert, der im 19. Jahrhundert wieder in Mode kam.

Keine Protzbauten

Als Protzbauten für Reiche hatte sie Gustav Lilienthal nicht geplant, denn drinnen sind diese Burgen schlicht und funktional. Für Familien mit schmaler Brieftasche waren sie gedacht, hatten aber Doppelfenster und Warmluftheizung. Ein ähnliches Doppelhaus hatte Gustav Lilienthal 1893 in der Marthastraße 5 für sich und seine Familie errichtet, begnügte sich aber mit dem linken Gebäudeteil. Eine Enkelin von ihm wohnt heute noch darin.

Bescheiden war er, der Erfinder des damals beliebten Anker-Steinbaukastens. Aber ideenreich. Die Türmchen der Burgen sind verkappte Schornsteine. Beim Hausbau nutzte er bereits Hohlblocksteine, mitunter auch vorgefertigte Wand- und Deckenelemente, selbst für mehrstöckige Häuser. Gustav Lilienthal hatte auch das Patent auf die von ihm erfundene Leichtbauweise.

Zahlreiche Bau-Beautys, sämtlich fein saniert, lassen sich in den Straßen zwischen dem Bahnhof Lichterfelde-West und der Finkensteinallee entdecken, eine Villenkolonie mit altem Baumbestand und blütenreichen Gärten. Hier haben die Bauherren einst ihre Architekturträume in diversen Stilen verwirklicht. Festgelegt hatte Carstenn jedoch den Abstand zur Straße und zum Nachbarhaus.

Neugotischer Stufengiebel

Backstein in rot und gelb war offensichtlich bei den frühen Häusern die erste Wahl, insbesondere beim 1896 bis 1898 errichteten Rother-Stift. Dem Hauptbau verpasste der Architekt Alfred Koerner sogar einen neogotischen Stufengiebel. Dieser Wohnblock mit Nebengebäuden, geschaffen für Beamten- und Soldatenwitwen, dient jetzt als Altersheim.

Ein Muss für viele Villenbesitzer waren auch Türme und Türmchen. Am Haus Kadettenweg 69, errichtet zwischen 1891 und 1893 von der Deutschen Volksbaugesellschaft, das vorher keinen Turm besaß, wurde einer seitlich aufgesetzt. Diese Genossenschaft sowie die Berliner Baugenossenschaft waren auch in der schmalen Steinäckerstraße tätig.

Außerdem wurden Doppelbauten und sogar größere Mietshäuser mit attraktiven Fassaden in dieser Villenkolonie errichtet. Jugendstil-Girlanden waren ebenso bald beliebt. Diese Wünsche erfüllten gut beschäftigte Architekten wie Robert Poseck, Ferdinand Stabernack, Emil Schwerdtfeger und Georg Böhme, der für ein Wohnhaus im Weddigenweg 25 eine Dach-Veranda-Verbindung kreierte.

An sachlich schlichten Bauten, wie die der von Richard Tietzen konzipierten Gemeindeschule in der Kommandantenstraße, fehlt es auch nicht. Geradlinig wirkt ein rot-weißer Wohnkomplex von 1873/74 in der Köhlerstraße, erdacht von Architekt Helling. Darüber hinaus fällt das allenthalben erhaltene Kopfsteinpflaster auf. Selbst in der viel befahrenen Ringstraße wurde nach der Sanierung erneut Kopfsteinpflaster gelegt. Das gehört halt zur Tradition, Ebenfalls zum historischen Ambiente gehören die von Carstenn mitgeplanten begrünten Plätze und Rasenflächen. Gemeinsam mit den vielen Gärten machen sie die Villenkolonie Lichterfelde zu einer grünen Oase und einem architekturreichen Luftkurort im Südwesten Berlins.
(Ursula Wiegand)

(Das aufwendig dekorierte Emisch-Haus, geplant von Willy Sander. Die Gemeindeschule in der Kommandantenstraße und das zwischen 1896 und 1898 errichtete Rother-Stift, heute ist es ein Altersheim - Fotos: Ursula Wiegand)

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