Bauen

Schaden nach der Überschwemmung: Verklauster Durchflussquerschnitt, der zur Umspülung des südlichen Widerlagers geführt hat. (Foto: Becker Ingenieure GmbH)

26.05.2023

Rasche Entscheidungen von großer Bedeutung

Wie die Brücke über die Ahr durch gemeinsames Handeln schnell wieder aufgebaut wurde

Am 14. Juli 2021 wurde das Ahrtal von einer schweren Naturkatastrophe getroffen. Heftige Regenfälle haben die Ahr ansteigen lassen und eine 6 bis 10 Meter mächtige Flutwelle hat sich durch das Tal gewälzt. Dabei wurde fast die komplette Infrastruktur in der Region zerstört. Neben zahlreichen Brücken, die die Ahr überqueren, war auch das gesamte Versorgungsnetz aus Strom-/Wasser-/Abwasser-/Gas-/Telefonnetz außer Betrieb.

In der als „Großschadenslage“ betitelten Region wurde zuerst eine koordinierte Erkundung mit allen Akteuren durchgeführt. Danach sorgte die Aufteilung der statischen Maßnahmen in Sofort-/Notmaßnahmen, Provisorien und Planungen für Struktur im planerischen Handeln. Höchste Priorität lag dabei auf Sicherungs- und Abbruchmaßnahmen, um weitere Schäden zu vermeiden.

Für die Aufräumarbeiten und die Versorgung der Anwohner*innen auf schnellem Wege war es erforderlich, dass die Standsicherheit und die Schäden der Verkehrsinfrastruktur beurteilt und provisorisch wieder aufgebaut werden. Das ansässige Ingenieurbüro, die Becker Ingenieure GmbH, betreute diese Arbeiten und koordinierte die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Stellen der Gemeinden und des Technischen Hilfswerks.
Eine besondere Herausforderung stellte dabei die täglich wechselnde Lage der Zuständigkeiten im Bereich der Infrastruktur dar. Um schnelle fachliche Entscheidungen und Absprachen treffen zu können, war ein enger Austausch erforderlich. Eine weitere Herausforderung bestand darin, flexible Baufirmen zu finden, die in der Lage sind, die Planungen ohne Vorbereitungszeit umzusetzen.

Treibgut meterhoch
vor der Brücke aufgetürmt

Eine der wenigen Brücken, die für einen provisorischen Wiederaufbau infrage kamen, war – neben der Piusbrücke – die Brücke über die L 83. Durch die Flut hatte sich das mitgerissene Treibgut teils meterhoch vor der Brücke aufgetürmt und den Durchflussquerschnitt verringert. Das Wasser hat sich daher über das südliche Widerlager mit der angrenzenden Gehwegunterführung seinen Weg gesucht. Die hohe Fließgeschwindigkeit führte zur Unterspülung der flachgegründeten Konstruktion. Das Widerlager samt der angrenzenden Unterführung hatte sich verkippt und wurde bis zu 6 Meter tief eingespült. Das Randfeld der Brücke hing damit an seinem südlichen Auflager vollständig frei und hatte sich etwa 20 Zentimeter nach unten verformt. 

Zuerst ging es um die Frage des Bauwerkszustands. Es galt den havarierten Zustand zu bewerten und rechnerisch nachzuweisen, damit Einsatzmannschaften das Bauwerk sicher betreten können. Zusätzlich wurde untersucht, ob der Bauwerkszustand ein Anheben in den ursprünglichen Lagerungszustand ermöglicht und im Anschluss wieder in Gebrauch genommen werden kann. Die Untersuchungen vor Ort und die Koordinierung der Projektbeteiligten hat die Becker Ingenieure GmbH durchgeführt.

Dank eines gut ausgebauten Netzwerks und vertrauensvoller Beziehungen zu den Entscheidungsträgern der regionalen Bauverwaltung konnten die notwendigen Maßnahmen initiiert werden. Um die Stabilität des beschädigten Brückenbauwerks zu bewerten, wurden erfahrene Ingenieur*innen der Zilch + Müller Ingenieure GmbH aus München für die Nachrechnung und Bewertung von Bestandsbrücken hinzugezogen.

Bei der Brücke über die L 83 mit der Bauwerksbezeichnung Ko 360 handelte es sich um ein dreifeldriges Bauwerk. Die Brücke wurde 1968 errichtet und überspannt die Ahr mit den seitlichen Vorlandbereichen. Das Bauwerk ist in der Brückenklasse 60 nach DIN 1072 eingestuft. Der Überbauquerschnitt besteht aus einem Vollquerschnitt mit seitlichen Kragarmen. Die Brücke ist in Längsrichtung mit Spanngliedern VT 108 vorgespannt. Am nördlichen und südlichen Widerlager schließen unmittelbar zwei Durchlässe an, die die parallel zum Fluss verlaufenden Gehwege unterführen.

Der Überbau lagert schwimmend auf Elastomerlagern auf. In den Pfeilerachsen sind jeweils sieben Lager angeordnet. In den Widerlagerachsen lagert der Überbau auf vier Elastomerlagern auf. Die Unterbauten sind senkrecht zur Brückenachse angeordnet und bestehen aus zwei Kastenwiderlagern sowie zwei Pfeilerscheiben, die jeweils flach gegründet sind.

Bei dem Hochwasser wurde das südliche Widerlager mit der angrenzenden Unterführung vollständig weggespült und beschädigt. Das Randfeld der Brücke kragt dadurch frei aus. Größere Schäden in Form einer ausgeprägten Rissbildung an der tragenden Konstruktion des Brückenüberbaus wurden nicht festgestellt.

Mit einer Nachrechnung sollte der Zustand der tragenden Struktur infolge des eingetretenen Schadens bewertet werden. Dabei wurden die Beanspruchungen für das havarierte System mit auskragendem Randfeld ermittelt und die Querschnittsbeanspruchung berechnet. Anhand des Beanspruchungszustands wurde rechnerisch untersucht, ob das Bauwerk nach der Instandsetzung die Einwirkungen aus dem Verkehrslastmodell der Brücke aufnehmen kann. Die Nachrechnung erfolgt in Anlehnung zur Nachrechnung von Straßenbrücken, unter Ansatz der DIN-Fachberichte.

Die Bemessungsergebnisse am Gesamtquerschnitt zeigten, dass die rechnerische Tragfähigkeit unter Ansatz der außergewöhnlichen Bemessungskombination nachgewiesen werden kann. Für den havarierten Zustand konnte damit ein stabiles Gleichgewicht nachgewiesen werden, sodass von einem unmittelbaren Einsturz des Bauwerks nicht auszugehen war. Die Arbeiten vor Ort konnten beginnen.

Für eine provisorische Weiternutzung des Bauwerks nach der Wiederherstellung des Widerlagers musste der Zustand der Betonstahl- und Spannstahlbewehrung beurteilt werden. Dabei ging es insbesondere um die Frage, ob der Stahl kritische Dehnungen erreicht hat, die zu einer Reduktion der Tragfähigkeit führen können. Hierfür wurden am räumlichen Berechnungsmodell die Bauteildehnungen unter Ansatz der einwirkenden Lasten und eingeprägten Zustände aus der Herstellung, der Havarie und dem späteren Anheben des Überbaus berechnet und ausgewertet.

Überbau angehoben, Widerlager erneuert

Für den Zustand mit frei auskragendem Randfeld hat sich im Ergebnis gezeigt, dass die maximalen Dehnungen für den Betonstahl bei 5,8 Promille lagen. Damit hat der Stahl rechnerisch seine Streckgrenze erreicht, lag aber noch deutlich unterhalb der Bruchdehnung. Für den Spannstahl ergaben sich die maximalen Dehnungen zu 4 Promille, sodass sich dieser noch im elastischen Bereich befand. Aufgrund der parabelförmig verlaufenden Spanngliedgeometrie und der abgestuften Längsbewehrung haben sich dabei die maßgebenden Nachweisschnitte nicht an der Stelle des größten Biegemoments gezeigt, sondern, ausgehend von der Pfeilerachse, zwischen dem Viertelspunkt und der halben Spannweite des Randfelds.

Nachdem der Überbau wieder angehoben und das Widerlager erneuert worden war, wurde das ursprüngliche Lagerungssystem wieder aktiviert. Das statische System entspricht damit dem planmäßigen Endzustand vor der Havarie. Da die Bemessungsergebnisse am auskragenden System zeigten, dass der Betonstahl bereichsweise ins Fließen gekommen ist, wurde die Tragfähigkeit lediglich unter Ansatz des Spannkraftzuwachses unter der ständig und vorrübergehenden Einwirkungskombination nachgewiesen. In Hinblick auf die Standsicherheit war eine provisorische Nutzung des Bauwerks mit dem eingestuften Lastbild der Brückenklasse 60 möglich.

Die besonderen Herausforderungen bei der Wiederherstellung waren vielfältig. Neben den Randbedingungen eines Katastrophengebiets in Hinblick auf Materialverfügbarkeit, Transportwege und Zugänglichkeit, sind flexible und kurze Entscheidungswege von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass mittelständische Unternehmen aufgrund ihrer Agilität und Flexibilität besonders geeignet sind, um schnell und effektiv Entscheidungen treffen zu können.

Die Wiederherstellung erfolgte in zwei Schritten. Im ersten Schritt ging es darum, das Randfeld wieder in seine ursprüngliche Lage anzuheben, um anschließend ein neues Widerlager zur Auflagerung zu schaffen. Für das Anheben des Überbaus wurden vier Stahlstützen mit Stellringpressen auf Hilfsfundamente aufgestellt. Der Überbau wurde auf die vorher berechneten Auflagerkräfte kraftgesteuert angehoben und die Höhenlage messtechnisch überwacht. Die Pressenkonstruktion wurde von der Firma Other zur Verfügung gestellt. Der Einbau vor Ort wurde von der Firma Meurer durchgeführt.

Das provisorische Widerlager wurde als Stahlbetonbalken in Fertigteilbauweise hergestellt und auf Ortbetonfundamenten gegründet. Das Lagerungskonzept des Überbaus mit den Verformungslagern in der südlichen Widerlagerachse entsprach dem Bestandszustand. Nach der Herstellung der Fußgängerquerungen, der seitlichen Stützwände und Erdarbeiten konnte die Brücke für die eingestufte Brückenklasse wieder für den Verkehr freigegeben werden.

Das Hochwasser an der Ahr hat neben dem menschlichen Leid auch gezeigt, mit welcher Wucht und Zerstörungskraft die Infrastruktur einer ganzen Region innerhalb kürzester Zeit zerstört werden kann. In solchen Katastrophenfällen sind schnelle Entscheidungen auf kurzem Weg von entscheidender Bedeutung, um die notwendige Infrastruktur so schnell wie möglich wieder funktionsfähig zu machen.

Innerhalb von nur zwei Monaten konnte das schwer beschädigte Brückenbauwerk über die L 83 als erste Brücke in der Region für seine ursprüngliche Brückenklasse wieder für den Verkehr freigegeben werden. Dank der Erfahrungen bei der Bewertung beschädigter Brückenbauwerke, der Anwendung moderner Berechnungsmethoden und vor allem dem unermüdlichen Einsatz aller Projektbeteiligten konnte das Bauwerk für die provisorische Nutzung wiederhergestellt werden. Im Vergleich zum Abriss des Bauwerks und einem späteren Neubau hatte der schnelle Wiederaufbau der Brücke nicht nur eine infrastrukturelle Bedeutung für den Ort, sondern auch eine symbolische Leuchtturmwirkung für die durch Naturgewalt zerstörte Region.

Der schnelle und unbürokratische Einsatz aller Beteiligten und Entscheidungsträger beim provisorischen Wiederaufbau der Brücke Ko 360 war auf seine Art einzigartig. Er zeigt, dass zu unserem Berufsstand mehr gehört als nur die Anwendung von Normen und Richtlinien. Vielmehr ist intuitives Wissen über Technik und Strukturen gefragt, um reaktionsschnell pragmatische Lösungen für außergewöhnliche Situationen zu finden. Durch die überregionale Vernetzung und das vertrauensvolle Miteinander wurden gemeinschaftliche Interessen in den Vordergrund gerückt und die Prozesse des Wiederaufbaus beschleunigt.

Dieses Projekt erhielt beim Bayerischen Ingenieurpreis 2023 eine Anerkennung. (Marco Heinze - Der Autor ist Mitglied der Bayerischischen Ingenieurekammer-Bau sowie Teammanager Ingenieurbau bei ZM-I und hatte beim Projekt Brücke über die Ahr die Projektleitung Tragwerksplanung/Nachrechnung inne.)
 

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