Bauen

Der Karl-Marx-Hof, in dem 1382 Wohnungen untergebracht sind, ist 1,2 Kilometer lang. (Foto: Ulrich Traub)

13.12.2019

Wohnen als Grundrecht

Das Rote Wien – im Zentrum stand der Soziale Wohnungsbau

Verzweifelt versucht die arme Mutter, ihr Baby zu wickeln – in Zeitungspapier. Es will nicht recht gelingen. Doch in der nächsten Szene kommt Hilfe in Gestalt einer Fürsorgerin zur Tür herein. Sie überrascht die Mutter mit einem Päckchen, dem sogenannten Säuglingswickelpaket, das von nun an allen Wiener Neugeborenen zugestanden wird.

Wir schreiben das Jahr 1927, die Stadt Wien wird seit acht Jahren sozialdemokratisch regiert. Und das Säuglingswickelpaket, das mit einem Kurzfilm beworben wurde, ist nur ein Beispiel für die vielen Reformprojekte jener Jahre. Es waren Reformen, mit denen die Stadtregierung nicht weniger als einen „neuen Menschen“ kreieren wollte. Es war die Epoche des Roten Wien, die bis heute einen fast mythischen Ruf hat.

„Die Programme waren nicht in erster Linie links, sondern aufklärerisch“, blickt Werner-Michael Schwarz auf die 15 Jahre zurück, in denen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) die Stadt regierte. Der Historiker, der am Wien Museum eine Ausstellung über diese Zeit erarbeitet hat, nennt das Wien am Ende des Ersten Weltkriegs eine „verelendete Stadt, ohne Vergleich in Europa“. Die vor 100 Jahren mit absoluter Mehrheit gewählten Sozialdemokraten, die ersten, die weltweit eine Großstadt regierten, strebten denn auch eine „tief greifende Verbesserung der Lebensbedingungen sowie eine weitreichende Demokratisierung der Gesellschaft“ an, fasst Schwarz zusammen.

Der Gemeindebau war der wichtigste Faktor im Programm und gilt bis heute als Aushängeschild des Roten Wien. Bis 1934 baute die Stadt Wien nicht weniger als 63 000 neue Wohnungen in 380 Gebäudekomplexen, was auch eine gewaltige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme darstellte. Der bekannteste dieser sogenannten Superblocks ist der Karl-Marx-Hof. 1,2 Kilometer lang ist dieser monumentale Riegel mit seinen 1382 Wohnungen, die 1930 etwa 5000 Menschen Platz boten. Gewaltige Rundbögen öffnen den Durchgang auf die grüne Seite des Hofs. Zwischen den Querhäusern liegen die mehr als fußballfeldgroßen Grün- und Spielanlagen. Nur rund 18 Prozent des riesigen Areals wurden verbaut.

„Luft, Licht, Sonne“ lautete der schlicht klingende Grundsatz, der hinter dem Konzept dieser von ihren Gegnern als „Volkswohnpaläste“ titulierten Bauten stand, erklärt Werner Bauer, der den „Roten Waschsalon“ im Karl-Marx-Hof leitet. Wer erfährt, dass 1917 fast drei Viertel aller Wiener Wohnungen überbelegte Ein- oder Zweiraumwohnungen waren, in denen katastrophale hygienische Verhältnisse herrschten, der versteht das geradezu Revolutionäre dieses Grundsatzes. Alle Räume waren so angeordnet, dass sie Tageslicht erhielten und man lüften konnte. Die meisten besaßen sogar Balkone oder Loggien. Fließendes Wasser gab es auch. „Vor 1919 war das lediglich bei zehn Prozent der Wohnungen der Fall“, informiert Bauer.

Die von ihm und seiner Frau Lilli konzipierte Ausstellung thematisiert das Rote Wien am authentischen Ort. Früher wurde in diesem Gebäude tatsächlich gewaschen und gebadet, denn der Dampf der Wäscherei diente zur Erhitzung des Wassers für die Wannenbäder. „Beim Wohnhausbau soll nicht nur an die Sicherung des Obdachs, sondern auch an die körperliche und seelische Gesundheit und an den kulturellen Aufstieg der Bevölkerung gedacht werden“, heißt es im 1928 erschienenen Merkbüchlein für Mieter in den Volkswohnhäusern.

Was das konkret bedeutet, erklärt Bauer: „In allen Gemeindebauten gab es neben Bädern und Wäschereien soziale Einrichtungen wie Gemeinschaftssäle, Kindergärten und Jugendhorte. Darüber hinaus gehörten Büchereien, Ateliers und Werkstätten zur Grundausstattung eines Hofs.“

Das Reformprogramm der Wiener SDAP, das dem „neuen Menschen“ auf die Sprünge helfen sollte, war breit angelegt. Neben dem Bau gesunder Wohnungen waren soziale Fürsorge (zum Beispiel zur Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit) und Bildung (Einführung der Einheitsschule) zentrale Themen. Der Etat für das Soziale wurde auf das Dreifache der Ausgaben in den Vorkriegsjahren erhöht.

„Im Mittelpunkt der Bildungsreform stand das Kind, nicht der Lernstoff“, sagt Werner-Michael Schwarz. „Es war die totale Abwendung vom Drill vergangener Jahre.“ Allerdings sei diese der deutschen Gesamtschule entsprechende Einheitsschule bis heute in Österreich nicht durchgesetzt worden, schränkt der Historiker ein. „Auch damals gab es innerhalb der Partei massive Richtungsstreitigkeiten“, so Werner Bauer, aber verglichen mit anderen europäischen Ländern war die Entwicklung im Roten Wien einmalig.“

In Europa ohne Vergleich

In Österreich selbst fand das Wiener Beispiel keinerlei Nachahmer. Die kompromisslose Umsetzung des Wiener Reformprogramms, das in Europa ohne Vergleich war, wurde erst 1922 möglich, nachdem die Stadt ein eigenständiges Bundesland geworden war. Jetzt konnte die Regierung eine eigenständige Steuerpolitik umsetzen. Besteuert wurde mehr oder weniger alles, was nicht zwingend lebensnotwendig war: Luxus wie Autos, Pferde und Hauspersonal, aber auch Vergnügungen wie Kaffeehausbesuche. Hinzu kam eine Wohnbausteuer, deren Erlös ausschließlich der Schaffung neuer Wohnbauten diente. Sie war sozial gestaffelt und zielte speziell auf Hausbesitz. Auf die teuersten Mietobjekte (0,54 Prozent) entfielen 45 Prozent der gesamten Steuer, liest man in einer Studie über die Kommunalpolitik jener Jahre.

„Der Gemeindebau war der Nukleus des Roten Wien“, so Werner-Michael Schwarz. „Kommunalen Wohnungsbau gab es überall, das Wiener Novum war, dass er nicht durch Schulden, sondern aus Steuern finanziert wurde.“ Eine Voraussetzung für das Gelingen dieser zentralen Reform war der Mietpreisstopp von 1917, der die Miete auf dem Niveau von 1914 einfror. Zusammen mit der grassierenden Inflation hatte das zum fast vollständigen Ausbleiben privaten Wohnbaus geführt und die Stadt kam günstig an die Baugrundstücke. „Die Bodenfrage hatte sich praktisch von selbst gelöst“, so Schwarz – mit einem beneidenswerten Ergebnis. 1926 mussten von einem Durchschnittseinkommen nur fünf bis zehn Prozent für die Mietkosten aufgewendet werden. In Wien war Wohnen als Grundrecht anerkannt worden, nicht als Spielwiese für Geschäftemacher.

Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten gerieten die Wiener Sozialdemokraten zunehmend in die Devise. Am 12. und 13. Februar 1934 ging das Rote Wien im Beschuss der Gemeindebauten, dieser Symbole des sozialen Miteinanders, durch Bundesheer und Polizei unter. Die SDAP wurde verboten. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, hatte Bürgermeister Karl Seitz bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hofs ausgerufen. Mit Recht. Alle seinerzeit errichteten Wohngebäude sind noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz.

Seit 1945 sind die Sozialdemokraten wieder ohne Unterbrechung stärkste politische Kraft in der österreichischen Hauptstadt. Wohnungsbau ist ein politisches Kernthema geblieben – allerdings ohne sozialreformerischen Überbau und ohne neue Superblocks. Aktuell leben zwei Drittel der Bevölkerung in Sozialbauten. Wien ist der größte kommunale Wohnungseigner in Europa mit rund 220 000 von der Stadt gebauten und vermieteten Wohnungen. Der Gemeindebau ist aber nur noch ein Grundpfeiler. Hinzu kommt ein nahezu gleich großer Bestand an gefördertem Wohnraum, für den Eigenkapital benötigt wird.

„Wien hat seine Wohnungen niemals zur Gänze dem Markt überlassen“, erklärt Kathrin Gaál. Die Wohnbaustadträtin hält an der Idee vom Grundrecht Wohnen fest. Bis Ende 2020 sollen 14 000 neue Wohnungen entstehen. Mit dem „Geförderten Wohnbau“ wolle man der Bodenspekulation einen Riegel vorschieben. Diese Ende 2018 verabschiedete Maßnahme sieht vor, dass Flächen, die als Wohngebiet ausgewiesen werden, zu zwei Drittel mit gefördertem Wohnraum (mit Beschränkungen bei den Mietkosten) bebaut werden müssen. „In Wien kann man an der Adresse nicht erkennen, wie viel jemand verdient“, verkündet Kathrin Gaál stolz. Das solle auch so bleiben.

Sozial durchmischt

Knapp 70 000 Euro netto darf das jährliche Einkommen eines Zweipersonenhaushalts maximal betragen, um eine Chance auf eine Gemeindewohnung zu haben. Steigt es, darf man trotzdem wohnen bleiben. Allerdings muss man mindestens eineinhalb Jahre Wartezeit einkalkulieren. Für den Quadratmeter im Gemeindebau zahlt man im Mittel zwischen sechs und sieben Euro. Sozial durchmischte Quartiere statt Ghettos, so lautet die Wiener Erfolgsdevise.

Wien ist beliebt und muss ähnlich wie vor 100 Jahren ein starkes Bevölkerungswachstum bewältigen. Gut, dass die Stadt noch 2,8 Millionen Quadratmeter Bauland besitzt und zu sanfter Nachverdichtung bereit ist. Hatte sich im Roten Wien der Geschosswohnungsbau, besonders prägnant zu sehen am Margaretengürtel mit seinen gewaltigen Hofanlagen, der „Ringstraße des Proletariats“, gegen den Bau von Siedlerhäusern zur Selbstversorgung durchgesetzt, so wird heute an der Peripherie gleich ein ganzer Stadtteil für 30 000 Menschen geplant.

Die Seestadt Aspern im Osten Wiens mit ihrem zu großen Teilen geförderten Wohnraum ist eines der umfangreichsten Entwicklungsprojekte in Europa. Anders als in Deutschland wird die dazugehörende Infrastruktur gleich mitgeplant. Mit den ersten Bewohnern kam auch der U-Bahnanschluss. „Leider wissen wir, dass hier die Unterstützung für die FPÖ sehr groß ist“, räumt Werner Bauer ein. Dank ist den Sozialdemokraten auch in Wien längst nicht mehr gewiss. (Ulrich Traub)

(Der Reumann-Hof und die Gedenktafel; das Amalienbad - Fotos: Ulrich Traub)

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