Der Digitalisierung eilt nicht nur der Ruf voraus, Produktwelten und Geschäftsmodelle auf den Kopf zu stellen. Mit dem Begriff Arbeiten 4.0 wird das Ende hierarchischer Führungskulturen ebenso verbunden, wie klassische Arbeitszeit- oder Karrieremodelle. Doch längst nicht alle wollen das.
„Arbeiten 4.0 wird vernetzter, digitaler, flexibler sein.“ Was das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu diesem Thema auf einer eigens geschalteten Onlineseite zu sagen hat, bleibt noch recht vage. Immerhin existiert bereits seit drei Jahren der vom Ministerium angestoßene „Dialogprozess Arbeiten 4.0“, um konkrete Fragen zu klären, wie die digitale Arbeitswelt gestaltet werden kann und soll. Dass Automatisierung und künstliche Intelligenz (KI) einen wesentlichen Treiber für die Entwicklung der Arbeitsplätze der näheren Zukunft darstellen, stellt kaum mehr jemand in Frage.
Experten der Bertelsmann Stiftung, die sich mit den Trends auf dem Arbeitsmarkt befasst, werden in einer Veröffentlichung zu den Ergebnissen einer internationalen Delphi-Studie etwas deutlicher. Als mögliche Konsequenzen der sich drastisch verändernden Anforderungen benennen sie „… das Ende hierarchischer Führungskulturen, das Ermöglichen flexibler und ortsunabhängiger Arbeitsformen, eine Kultur der Kooperation und der selbstorganisierten Zusammenarbeit in zunehmend virtuellen Teams oder die rasch wachsende Relevanz von selbstbestimmtem Lernen in neuen Formen.“ Zukunftsszenarien für die neue Arbeitswelt entwerfen auch die Fachleute des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO).
Jeder muss sich selbst darum kümmern, was sie oder er zur Erfüllung der zu erledigenden Aufgaben braucht
Ein Team des Instituts nutzte kürzlich die re:publica, die als europaweit größte Konferenz zur digitalen Gesellschaft im Mai 2018 in Berlin stattfand, um sich im Rahmen eines Workshops intensiv mit zukunftsweisender Arbeitszeitgestaltung zu beschäftigen. Die Quintessenz aus den Ergebnissen: Die Erwartungen an die Eigenverantwortung der Beschäftigten nehmen zu, was die Struktur von Arbeitsprozessen, Zeitgestaltung und Qualifizierung anbelangt. Im Klartext: Jeder soll sich selbst darum kümmern, was sie oder er zur Erfüllung der zu erledigenden Aufgaben braucht, die wiederum mehr und mehr in den Teams selbst definiert werden.
Wilhelm Bauer, Institutsleiter des IAO, will mit unterschiedlichen Angeboten vor allem auf die künftigen Chancen aufmerksam machen. „Die Digitalisierung verändert Arbeit auf vielfältige Weise. Alles wird dynamischer, volatiler und wandelt sich in enormem Tempo. Wir wollen veranschaulichen, wie nicht nur Unternehmen, sondern jeder Einzelne diesen Wandel für sich nutzen und gestalten kann“. Welche Rolle Forschung und Wissenschaft bei der Bewältigung dieser Veränderungen spielen, ist auch Thema des Wissenschaftsjahres 2018 unter dem Motto „Arbeitswelten der Zukunft“.
Zu den befürchteten Risiken der Veränderungen gehört es, dass viele Menschen mit dem Tempo nicht Schritt halten können und der Abbau hierarchischer Verantwortlichkeiten zu einer weitreichenden Überforderung führen kann. Allerdings sehen nicht alle Experten gleich sämtliche Chefebenen wegbrechen. Gianluca Carnabuci ist Associate Professor für organisatorisches Verhalten an der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin und geht davon aus, dass Hierarchien weiter Bestand haben und ungeachtet der Organisationsform wertvoll sind: „Einerseits erleichtern sie die Zusammenarbeit, indem sie für allgemein akzeptierte Ziele und Konfliktlösungen sorgen. Zum anderen ermöglichen sie es, das individuelle Eigeninteresse und Kontrollbedürfnis mit den übergreifenden Zielen der Organisation in Einklang zu bringen.“ Insofern scheint es besonders wichtig, über Hierarchien hinweg immer im Dialog zu bleiben, auch im Rahmen von Konflikt- und Diskussionsgesprächen.
Über „die da oben“ zu meckern heißt für viele noch lange nicht, dass sie selbst die Verantwortung übernehmen und die Situation bei Bedarf auch verändern wollen. Falls sich allerdings die Prognosen zur Dynamik der Arbeit 4.0 bestätigen, wird – auf breiter Basis und viel mehr als heute üblich – eine eigenverantwortliche Haltung notwendig werden. Schnelle Entscheidungen im Sinne agiler Arbeitsweisen müssen dezentral, in der jeweiligen Fachinstanz getroffen werden. In der Abstimmung mit den Führungsebenen wird es um gemeinsame Ziele gehen und nicht den Weg, wie diese erreicht werden. Damit das funktioniert, wird Vertrauen eine zentrale Rolle spielen. Im Sinne von Selbstvertrauen, basierend auf Kompetenz und Feedback ebenso wie auf dem Vertrauen, das über Hierarchien hinweg von oben nach unten und umgekehrt geschenkt wird. Denn letztlich wird Arbeit 4.0 bei aller technologischen Orientierung vor allem Interaktion zwischen Menschen bleiben – hoffentlich.
(Frank Beck)
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