Freizeit und Reise

Bekannt als Tibetisches Dorf, die Jagdhausalmen im Nationalpark Hohe Tauern. (Foto: Angelika Irgens-Defregger)

16.09.2020

Vom Großglockner nach Klein-Tibet

Entdeckungsreise durchs osttiroler Defreggental

Osttirols vermutlich ältester Ort liegt im Defereggental und heißt St. Jakob. Aufgrund seiner Höhenlage von 1400 Metern und der wenigen Sonnenstrahlen, die im Winter in das schmale Tal dringen, ist er manchmal auch der kälteste in ganz Österreich. Nur wenige Autominuten vom Ortskern entfernt, befindet sich das Alpinhotel Jesacherhof. Wer hier übernachtet, kann nicht nur die feine Gourmetküche genießen, sondern auch im neuen Spa- und Wellness-Bereich bestens tiefenentspannen. Der Weg ins Skiparadies oder zu den sonnenbeschienenen, grünen Bergmatten im Sommer ist kurz. Denn direkt vor der Haustür des auf große Besucherzahlen ausgerichteten Sporthotels befindet sich die Gondelbahn hinauf zur Brunnalm, von der man anschließend mit dem Sessellift zum neuen Erlebnisort Wassermythos Ochsenlacke gelangt.

Als attraktives Sommerausflugs-ziel soll der Höhenspielplatz Familien anlocken. So jedenfalls die Hoffnung des Tourismusverbands, der in der Ära vor Corona in Zusammenarbeit mit dem Planungsbüro Revital seine Kreativität zum Thema „Lebenselixier Wasser“ im wörtlichen Sinne auf den Gipfel getrieben hat. Hinter der schönen neuen Märchenwelt verbirgt sich ein groß angelegtes Infrastrukturprogramm, durch welches das Skigebiet nahe der Mooseralm auf 2300 Metern Seehöhe im Sommer zum Rummelplatz der Youngsters mutiert, was eine bessere Auslastung der Gondelbahn im Sommer garantiert.

Gigantische Tierfiguren

Spielgeräte aus Holz zum Klettern und Rutschen formieren sich zu gigantischen Tierfiguren. Rund um den Speichersee wachen Alpenmolch, Bachforelle, Grasfrosch, Libelle und Wasseramsel als die fünf „Hüter der Bergwasserschätze“. Allerdings ist mit dem Ressourcenverbrauch – der Speichersee dient im Winter als Wasserreservoir zur künstlichen Beschneiung – genau das Gegenteil der Fall.

Auf der wie der Rumpf eines Schiffs gestalteten neuen Panoramaplattform schweift dann der Blick über das wunderschöne Defereggental vor majestätischer Bergkulisse einschließlich des Großvenedigers. Unwillkürlich fragt man sich bei so viel künstlicher Naturinszenierung: Naht Rettung oder Untergang? Ist die neue Möblierung am Gebirgsgrat mehr Arche Noah oder doch Titanic? Oder beides? Künstlerischer Ausdruck der Gratwanderung zwischen Achtsamkeit gegenüber der Natur und deren Zerstörung? Es mag den einen oder anderen doch ein wenig überraschen, zu hören, dass dieses jüngste Projekt mit EU-Geldern im Rahmen des Sonderprogramms „Natura 2000“ gefördert werden soll.

Wenn der Berg ruft, kommen die Touristen. Und das bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Bergkulisse noch als exotisch galt. Allerdings blieb Osttirol, insbesondere das Defereggental, vom kommerzialisierten Massentourismus bereits schon in Zeiten vor Ausbruch des Coronavirus verschont. Vielleicht weniger zur Freude der Einheimischen. Denn die meisten der insgesamt 900 Einwohner leben hier vom Tourismus. Einige würden selbst Großprojekte wie Staudammbauten oder Gletscherskigebietserschließung befürworten, weil sie sich damit, kurzfristig gedacht, satte Gewinne erhoffen.

Die Skifahrer und Snowboarder, die am liebsten unter dem Motto „alles für Sie“ eine mit feinstem Pulverschnee überzuckerte Piste für sich alleine haben wollen, frohlocken. Wer die Authentizität des Defereggentals, jene besondere Mischung aus Hochgebirge und bäuerlich gewachsener Kulturlandschaft, zu schätzen weiß, der verzichtet liebend gerne auf den Ski- und Après-Ski Zirkus nach dem Muster von Kitzbühel oder Ischgl, die beispielhaft sind für den Overtourismus der Alpen.

Bei Huben, etwa zehn Kilometer südlich von Matrei, wo das Kalser Tal auf das Iseltal trifft, öffnet sich das Defereggen, auch das „Tal des lebenden Wassers“ genannt. Wo mineralienreiches Heilwasser aus 2000 Metern Tiefe kommt, ist auch in finanzieller Hinsicht ein Gesundbrunnen entstanden. Im neuen Abfüllgebäude, effektvoll gestaltet als Tropfsteinhöhle von dem Osttiroler Künstler Michael Lang, wird den Besuchern die Geschichte des Deferegger Heilwassers anhand der Legende der hier einst hausenden Schnabelmenschen und Beschützer des Tals erklärt. Die Anwendung eines Wannenbads mit dem jodhaltigen Thermalwasser kann jedenfalls nicht schaden und erfrischt die müden Füße allemal.

Im ehemaligen Überschwemmungsgebiet der Schwarzach, zwischen Brugger Almbach und dem Stallebach, behaupten sich unter Naturschutz stehende Tamariskenbüsche, die zu den letzten ihrer Art in Mitteleuropa zählen. Am Staller Sattel, der Grenze zu Südtirol (die Passstraße ist nur im Sommer befahrbar!), mit Blick ins Antholzer Tal erblühen im Juni rund um den benachbarten glasklaren Obersee Alpenrosen in einem Farbenmeer aus Pink – so unreal, als hätte Verpackungskünstler Christo hier seine Hand im Spiel.

Der Gebirgssee auf 2016 Metern verdankt seine Entstehung dem Rückzug der Gletscher vor rund 10 000 Jahren. Bedeutendster Fund aus dem Obersee ist ein 1000-jähriger Einbaum, der im Archäologischen Talschaftsmuseum von St. Jakob verwahrt wird, wo man anhand von Fundstücken, wie Waffen aus Feuerstein, eine historische Zeitreise zurück bis in die Mittelsteinzeit machen kann.

Zweiter Broterwerb

Die alpine Urkraft spüren die Bergbewohner des Defereggen schon lange. Die vielen Schranken entlang der Straße lassen erahnen, wie isoliert die Bergbewohner sind, wenn die Berge ins Rutschen kommen, Muren und Lawinen die Straße unpassierbar machen, wie bereits in den vergangenen Jahren mehrmals geschehen.

Wer aber sind die Deferegger? Eine Gemeinschaft wanderlustiger Hausierer, die in einem abgeschiedenen Tal mit einem Namen slawischen Ursprungs gelebt haben? Urkundlich belegbar ist der Name des Tales seit dem 12. Jahrhundert, wo sich verschiedenste Schreibweisen erhalten haben. Um in der Abgeschiedenheit ihrer Heimat überleben zu können, waren die Bergbauern hier immer schon auf einen zweiten Broterwerb angewiesen. Die weltoffenen Alpenbewohner mit einem gewissen Hang zur Wirtschaft zogen in die Ferne, um Handel zu treiben. Aber sie kehrten immer wieder zurück in ihre Heimat. Ihre Handelsware, aus Tierhaar hergestellte Decken und Teppiche, sogenannte Kotzen, ließen sie im Pustertal herstellen.

Heinrich Heine, wegen seiner Scharfzüngigkeit viel gerühmt, zögerte 1828 nicht, regionale Klischees und Stereotype festzuschreiben: „Diese bunten Deckenverkäufer, diese muntern Tiroler Bua, die wir in ihrem Nationalkostüm herumwandern sehen, lassen gern ein Spielchen mit sich treiben, aber du mußt ihnen auch etwas abkaufen.“

Später wurden auch Strohhüte von den Defereggern „verhandelt“, weiß Viktor Ladstätter. Der Ahnenforscher kennt wie kein Zweiter die Geschichte seiner Landsleute. Er ist in den Archiven zu Hause und erforscht akribisch die Zeugnisse seiner Vorfahren. Ladstätter pocht auf die richtige Schreibweise Defreggen statt Defereggen. In Familiennamen und in der Mundart fehlt das „e“ bis heute, sagt Ladstätter. Er kennt auch die im Volksmund verbreitete, falsche These, dass die Bewohner des benachbarten Virgentals über die angeblich ärmlichen Deferegger gespottet haben: „Dei varreck’n“ (= die verrecken!).

Es ist diese vermeintliche Ärmlichkeit des Defereggen, die heute seine Stärke ist. Da der Gebirgsanteil an der Gemeindefläche beträchtlich ist, bleibt für Landwirtschaft und Siedlungen nur wenig Platz. Im Erhalt dieses einzigartigen Natur- und Kulturraums mit seiner artenreichen Fauna und Flora steckt das Potenzial für langfristiges Handeln und Investieren in die Zukunft nachfolgender Generationen.

Der Bürgermeister von St. Jakob, Ingo Hafele, der sich seine Sporen im Tourismusverband Osttirol verdient hat, steht für Veränderung. Mit seinen 30 Jahren ist der politische Quereinsteiger der jüngste Bürgermeister Osttirols. Seine zukunftsweisende Marketingstrategie in Zeiten der Klimaerwärmung und des Verlusts der Biodiversität lautet: den Sommertourismus stärken. Eine Neupositionierung, welche darauf abzielt, die Landschaft zu bespielen und zu inszenieren. Mithilfe neuer Ankerzentren sollen dem Besucher die Besonderheiten der Region vor Augen geführt werden. Beispielsweise im Nationalpark Hohe Tauern, wo man auf dem neuen Beobachtungsturm Oberhaus im Zirben- und Lärchenwald die alpine Wildnis erkunden kann, ohne sie zu zerstören.

Hier trifft der größte zusammenhängende Zirbenwald der Ostalpen auf eine Kulturlandschaft, die von jahrhundertelanger Arbeit der Bergbauern geprägt ist. Ein besonderes Charakteristikum dieser Gegend sind die pittoresken Natursteinmauern aus Lawinengeröll im Oberen Defereggental. Um die Almwiesen für die Viehwirtschaft frei zu halten, werden die Steine noch heute eingesammelt, in Haufen gelagert und anschließend zu langen Steinmauern kunstvoll übereinander geschichtet.

In seiner heutigen Ausdehnung besteht der Nationalpark Hohe Tauern seit 1992. Er durchquert die Bundesländer Salzburg, Kärnten sowie Tirol und ist mit seiner Fläche von 1856 Quadratkilometern der größte im gesamten Alpenraum.

Sanfte Bergsportarten wie Wandern, Rafting, Mountain- oder E-Biken sind im Nationalpark ebenso beliebt wie Schneeschuhwanderungen rund um den Obersee am Staller Sattel zum Sonnenuntergang.

Eine Besonderheit sind die ganzjährig angebotenen Nature Watch Touren. Erlebnisreiche Wanderungen naturnah und naturverträglich. Zusammen mit Rangern des Nationalparks gehen die Gäste auf Safaritour. Kurz nach Sonnenaufgang am Fuße des Prestigebergs Großglockner, Österreichs höchstem Berg, können wir mit dem Fernrohr Wildtiere bei der Nahrungsaufnahme beobachten. Zu den prominentesten zählen die sogenannten Big Five: Murmeltier, Gämse, Steinbock, Steinadler und Bartgeier, der sich auf den Verzehr von Knochen spezialisiert hat, wie uns Rangerin Carola Trojer erzählt. Gleichzeitig hält sie uns ein drei Meter breites Tuch mit der Silhouette dieses mächtigen Vogels vor die Augen, der in den Alpen bereits ausgestorben war und erst vor ein paar Jahren durch ein europäisches Renaturierungsprojekt wieder heimisch werden konnte.

Die Touristen für die Naturschönheiten zu sensibilisieren, ist im Prinzip eine feine Sache. Man muss sich aber im Klaren darüber sein, dass selbst ein Klick mit dem Smartphone bekanntlich eine Lawine von Touristen nach sich ziehen kann. Ein digitales Foto einer noch so als Geheimtipp geltenden, unberührten Naturlandschaft auf Instagram gepostet, geliked und gehashtaged kann heute mitunter zerstörerischer sein, als eine ins Tal donnernde Lawine.

Für Klein-Tibet, wie die Jagdhausalm, eine der ältesten Almen Österreichs, auch genannt wird, wäre das ein Verhängnis. Die Sommeralm liegt am Ende des Defereggentals ebenfalls im Nationalpark Hohe Tauern. Sie wird von einer Agargemeinschaft bewirtschaftet, deren Mitglieder allesamt aus Südtirol stammen. Oberhalb des erstmals 1212 urkundlich erwähnten und heute denkmalgeschützten Gebirgsdorfs mit 16 Steinhäusern und Maria-Hilf-Kapelle, präsentiert sich uns eine unreal anmutende Naturschönheit: das Pfauenauge, ein kleiner, kreisrunder Teich, umgeben von sattem Grün des Hochlandschilfs, versteckt hinter einem Moränenwall.

Überhaupt erscheinen hier auf 2000 Metern die Wiesen so grün, wie nirgendwo anders. Verantwortlich dafür sind die Kühe, die hier frei weiden können und dabei gleichzeitig den entsprechenden Dünger liefern. Nach einer gut zweistündigen gemütlichen Wanderung, beginnend beim Gasthaus Oberhaus, entlang der unteren und oberen Seebachalm, sind wir glücklich an unserem Ausflugsziel angelangt. Wir freuen uns nun auf eine köstliche Brotzeit auf der Sonnenterrasse der urigen Almhütte von Klein-Tibet, das hoffentlich in seiner Authentizität uns noch lange erhalten bleibt. Auch nach der Ära von Covid-19. (Angelika Irgens-Defregger)

(Der Höhenspielplatz Wassermythos Ochsenlake. Der Obersee und der Blick vom Staller Sattel nach Westen ins Antholzer Tal in Südtirol - Foto: Angelika Irgens-Defregger)

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