Geschichte(n): 100 Jahre Bayern

Menschenmengen sammeln sich während der Novemberrevolution 1918 am Münchner Stachus. Bei den Bauern ist die Wut auf König Ludwig III. und seine Kriegsbegeisterung nicht geringer als bei den Städtern. Am 7./8. November 1918 proklamiert Kurt Eisner den Freistaat Bayern und wird von einem provisorischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat zum Ministerpräsidenten gewählt. (Foto: dpa)

29.03.2018

Die vergessenen Revoluzzer

Ludwig und Karl Gandorfer: Zwei niederbayerische Bauern spielten bei der Geburt des Freistaats 1918/19 eine zentrale Rolle

2018 feiert der Freistaat seinen hundertsten Geburtstag. Die Akteure der Revolution von 1918 sind indes wenig bekannt. Kurt Eisner ist vielen gerade noch geläufig, doch der erste Ministerpräsident des Freistaats hat diesen natürlich nicht allein proklamiert. Zu den maßgeblichen Geburtshelfern des Freistaats gehören zum Beispiel die Brüder Karl und Ludwig Gandorfer. Wir stellen sie vor. Hundert Jahre Freistaat Bayern – hundert Jahre Gerüchteküche. Die Revolutionäre, die am 8. November 1918 den letzten bayerischen König stürzten und die bayerische Republik, den Freistaat Bayern ausriefen, hatten viele Gegner. Im ersten Moment wurden diese Gegner der Revolution von der Dynamik der Ereignisse überrollt; kaum jemand hatte damit gerechnet, dass das jahrhundertealte monarchische Machtgefüge über Nacht zum Einsturz gebracht werden könnte. Doch dann kam die Reaktion schnell wieder zu sich und versuchte mit aller Macht, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen.

Entscheidend dabei war die Propaganda. So versuchte man von Anfang an, den Umsturz als das Werk „weltfremder Caféhausliteraten“ darzustellen, denen es in den Großstädten gelungen sei, ein paar hundert Arbeiter aufzuhetzen. Doch die Landbevölkerung sei strikt gegen die Revolution gewesen, sofern sie von ihr überhaupt etwas mitbekommen habe. Es handelt sich dabei um eine der vielen Halb- und Unwahrheiten, die bis heute über die Geburtsstunde des Freistaats kolportiert werden.

Es genügt, zwei Namen zu nennen, um diese alte Nebelkerze wegzupusten: Ludwig und Karl Gandorfer. Die beiden Brüder, Bauern aus dem niederbayerischen Pfaffenberg, spielten während des Umsturzes eine wichtige Rolle; sie waren der direkte Draht des revolutionären Ministerpräsidenten Kurt Eisner zu den Bauern. Dessen Sekretär Felix Fechenbach berichtet, wie es zu dem Kontakt kam: „Eisner nahm deshalb noch im Oktober die Verbindung mit radikalen Bauern auf, vor allem mit dem blinden Bauern Ludwig Gandorfer und dessen Bruder, dem Landtagsabgeordneten Karl Gandorfer, der Eisner durch eine scharfe Oppositionsrede im Landtag aufgefallen war.“

Eisner, Arm in Arm mit dem blinden Ludwig Gandorfer

Ludwig Gandorfer, der jüngere der Brüder, ist zu dem Zeitpunkt 38 Jahre alt und hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Schon 1905 legt er sich mit der königlich-bayerischen Obrigkeit in Gestalt des Mallersdorfer Bezirksamtmanns an, dem er „Pascha-Manieren“ vorwirft. Zuvor hat Ludwig Gandorfer einige Zeit in Deutsch-Ostafrika gelebt. 1907 kandidiert er bei den Reichstags- und Landtagswahlen für die Sozialdemokraten, wenn auch erfolglos. Doch am 7. November 1918 ist er derjenige, der mit Kurt Eisner von einer Friedenskundgebung auf der Theresienwiese aus den Sturm auf die Kasernen anführt.

Der junge Oskar Maria Graf beobachtet Kurt Eisner, der Stunden später den Freistaat proklamieren wird, aus ein paar Schritt Entfernung: „Arm in Arm mit dem breitschulterigen, wuchtig ausschreitenden blinden Bauernführer Gandorfer ging er.“ Doch Graf sieht nicht das typische Bild eines Blinden, der sich zaghaft von einem Sehenden führen lässt: „Diese Gestalt bewegte sich viel freier, derb auftretend, fest, und so eben, wie ein bayerischer Bauer dahingeht.“ Am nächsten Tag steht auf der Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten ein Aufruf „An die ländliche Bevölkerung Bayerns!“, der als „größte Aufgabe“ die Beendigung des Krieges und „ein menschenwürdiges Dasein“ für alle nennt. Darunter: „Es lebe die soziale Republik! Der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat: Kurt Eisner – Ludwig Gandorfer.“

Dass Ludwig Gandorfer als zentrale Figur bei der Ausrufung des Freistaats Bayern seit hundert Jahren fast immer unterschlagen wird, hat auch damit zu tun, dass er zwei Tage später stirbt. Er kommt bei einem Autounfall bei Schleißheim ums Leben. Sein fünf Jahre älterer Bruder Karl Gandorfer übernimmt nicht nur den von Ludwig Gandorfer kunstsinnig ausgebauten Zollhof in Pfaffenberg, sondern auch Ludwigs Rolle als Repräsentant der Bauern bei der Revolution. Im Gegensatz zu diesem hat er Erfolg bei Wahlen: Schon seit Jahren ist er als Bauernbündler Mitglied des Landtags, nun auch noch der Weimarer Nationalversammlung, später des Reichstags.

Ludwig Thomas antisemitische Hasstiraden

Karl Gandorfer wird von der rechten Presse ins Visier genommen. Der Miesbacher Anzeiger, in dem Ludwig Thoma anonym seine antisemitischen Hasstiraden vom Stapel lässt, wirft Karl Gandorfer am 4. Dezember 1918 auf der Titelseite vor, dass er „die bayerische Landwirtschaft an den Juden Eisner, mit dem er schon zu Anfang techtelmechtelte, verkauft hat.“

Kurt Eisner fällt der antisemitischen Hetze zum Opfer, er wird am 21. Februar 1919 erschossen. Doch Karl Gandorfer verkriecht sich nicht auf seinem Hof. Mitte März fährt er in die Schweiz, um Lebensmittel für das hungernde Bayern zu besorgen. Ein Kaufmann mit entsprechenden Verbindungen ist mit dabei, innerhalb von Tagen rollen die Güterwaggons. Gandorfers Lohn: Nach der Niederschlagung der Revolution Ende April ist die Staatsanwaltschaft hinter ihm her: unerlaubte Wareneinfuhr aus der Schweiz. Zwei Monate sitzt Karl Gandorfer in Straubing im Gefängnis. Die unerlaubte Wareneinfuhr ist noch das geringere Delikt, der Hauptvorwurf lautet auf Hochverrat.

Doch die Weimarer Nationalversammlung fällt der Münchner Staatsanwaltschaft in den Arm und lässt die Strafverfolgung in dem Punkt nicht zu. Der Vorwurf, an der Revolution beteiligt gewesen zu sein, holt Karl Gandorfer indes immer wieder ein. Immer mehr setzt sich die Meinung durch, dass dies einem Verbrechen gleichkomme: „Novemberverbrecher“ nennen die Nazis diejenigen, die im November 1918 den Freistaat Bayern ausriefen.

Vor Gericht und im Reichstag schlägt sich Karl Gandorfer mit den Nazis herum, publizistisch wird er vom Landauer Volksblatt unterstützt, in dem sein Freund Konrad Kübler noch am 5. März 1933 mutig titelt: „Warum der Bauer nicht nationalsozialistisch wählen kann“. Kübler bezahlt seinen Mut mit Schutzhaft und KZ. Gandorfer ist da schon tot. Er stirbt im August 1932, mit 57 Jahren, eines natürlichen Todes.
(Florian Sendtner)

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