Geschichte(n): 100 Jahre Bayern

Renate Schmidt schlug genüsslich einen Bogen zur Gegenwart. (Foto: SPD-Fraktion)

17.04.2018

Ein rauschendes Fest

Die SPD feiert im Maximilianeum unter großem Zuspruch die Ausrufung des Freistaats Bayern – Fraktionschef Markus Rinderspacher will den 8. November als Feiertag

„Bayern zuerst – hier stimmt es ausnahmsweise mal!“
SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher muss seine Rede
zweimal hintereinander halten, so viele Besucher sind der
Einladung der SPD zur Auftaktveranstaltung „100 Jahre
Freistaat Bayern“ ins Maximilianeum gefolgt. 750
Anmeldungen – die eine Hälfte füllt den Plenarsaal, die
andere den Senatssaal, Redner und Musikanten wechseln
hin und her.
„Bayern first! – Am 8. November
1918 entstand erstmals auf deutschem
Boden eine demokratische
Republik – in Bayern!“ SPD-Fraktionschef
Markus Rinderspacher
macht es sichtlich Spaß, die von
Ministerpräsident Horst Seehofer
(CSU) gern gebrauchte Formel
„Bayern zuerst!“ ironisch gegen
die CSU zu wenden. Denn die hadert
nach wie vor mit der Ausrufung
des Freistaats 1918 durch
den USPD-Politiker Kurt Eisner.

Freistaat Bayern: Er sicherte Frauen, Knechten und Besitzlosen das Wahlrecht


Ganz anders die SPD: Sie will
„diese überragende historische
Wegmarke“ angemessen feiern –
am besten mit einem Feiertag am 8.
November. Doch damit ist Rinderspacher
tags zuvor bereits an der
Regierungspartei gescheitert. Was
den SPD-Fraktionschef nicht daran
hindert, seine Argumentation
jetzt vor dem vollen Besucherhaus
nochmal zu wiederholen: „Es geht
um den Stolz und die Würde, keine
Untertanen mehr zu sein!“
Kurt Eisner und die anderen mutigen
Akteure von 1918/19 seien
lange genug „buchstblich links liegengelassen“
worden, die Ausrufung
der Republik müsse endlich
richtig eingeordnet werden. „Der
8. November 1918 hat für den Freistaat
Bayern eine Bedeutung, die
der des 14. Juli 1789 für Frankreich
oder des 4. Juli 1776 für Amerika in
nichts nachsteht.“ Die CSU, die
sich gern so darstelle, als sei sie mit
dem Freistaat identisch, sei erst 28
Jahre nach dem Freistaat gegründet
worden. Doch auch der SPD, betont
Rinderspacher, gehe es nicht
darum, Kurt Eisner für sich zu vereinnahmen.
„Wir wissen sehr differenziert
mit unserer Geschichte
umzugehen!“ In einer szenischen Lesung von
Originaltexten wird das anschließend
auch deutlich: Die königlich-
bayerischen Sozialdemokraten
wurden von der Ausrufung des
Freistaats durch Kurt Eisner völlig
überrumpelt. Erhard Auer, der
bayerische SPD-Vorsitzende und
Gegenspieler Kurt Eisners, hatte
bis zur letzten Minute versucht,
die aufrührerischen Massen zu beschwichtigen
– vergeblich. Dennoch,
den Seitenhieb auf die Gegenwart
können sich die Historiker
Markus Schmalzl und Georg
Schulz nicht verkneifen, sei Erhard
Auer am 8. November 1918
„nach einem halben Tag Sondierung“
in die Regierung Eisner eingetreten.

Die CSU-Regierung hat die Ausrufung
des Freistaats zwar auch
sozusagen zum Feiern ausgeschrieben
(„Wir feiern Bayern“),
stellt dem Jahr 1918 aber das Jahr
1818 zur Seite: Auf dieses Jahr datiert
die erste bayerische Verfassung,
freilich noch unter den Wittelsbachern.
200 Jahre Verfassungsstaat
Bayern? Das reißt Renate
Schmidt nicht vom Hocker.
Nach 15 Jahren steht die Sozialdemokratin
wieder am Rednerpult
im Landtag, in den Neunzigern
war sie SPD-Fraktionsvorsitzende,
forderte zweimal Amtsinhaber
Stoiber heraus, zuvor war sie Bundestagsvizepräsidentin,
danach
Frauen- und Familienministerin
in der Regierung Schröder – kurzum:
die profilierteste SPD-Politikerin
Bayerns. Aber 200 Jahre
bayerische Verfassung, da hält
sich Renate Schmidt nicht lang
auf. „Da gibt’s nicht viel zu feiern!“
Wählen durften ab 1818 nur
Männer, und auch die nur, wenn
sie erstens ausreichend Besitz und
zweitens den rechten christlichen
Glauben vorweisen konnten.
Wahlberechtigt waren somit keine
20 Prozent der Bevölkerung.

Nein, das einzige, was es 2018
zu feiern gibt, das ist für Renate Schmidt die Proklamation des
Freistaats Bayern 1918, die den
Frauen und den Knechten und
Besitzlosen das Wahlrecht bescherte.
Und Schmidt zitiert die
Vorbehalte, die bis 1918 gegen
das Frauenwahlrecht geltend gemacht
wurden: Die Befähigung,
politische Zusammenhänge zu erkennen,
sei bei Frauen nicht gegeben,
die Hausarbeit würde vernachlässigt,
das weibliche Gemüt
drohe zu verrohen, und überhaupt
sei das weibliche Gehirn
zu klein, um die Politik zu verstehen.

Genüsslich schlägt Renate
Schmidt den Bogen zur Gegenwart:
Die CSU sei mit 13 Prozent
Frauen in ihrer Landesgruppe im
Bundestag neben der AfD „der
Hauptverantwortliche für den
dramatischen Rückgang des Frauenanteils
im neuen Bundestag“.
Und sie zitiert Käte Strobel, ihre
Vorgängerin als SPD-Familienministerin in der Regierung von Willy
Brandt, die gesagt habe: „Die
Politik ist eine viel zu ernste Sache,
als dass man sie den Männern
überlassen könnte.“

Dafür, dass auch die SPD nicht
ungeschoren davonkommt, sorgen
in dem dichten Zweieinhalb-
Stunden-Programm, moderiert
von der SPD-Landtagsabgeordneten
Isabell Zacharias, die Wellküren,
die zwischendurch auf Harfe,
Hackbrett, Tuba, Saxophon, Akkordeon
und Gitarre aufspielen
und Gstanzl zu Gehör bringen,
die das hohe Haus erst richtig in
Stimmung bringen. Natürlich ist
in erster Linie die CSU ihre Zielscheibe,
doch am Ende einer Georg-
Lohmeier-Parodie folgt die
unvermutete und wenig schmeichelhafte
Pointe: „Für Ruhe und
Ordnung sorgte die bayerische –
SPD.“

Die hundert Jahre, die seit 1918
vergangen sind, werden von allen möglichen Seiten beleuchtet. Da
erinnert der SPD-Rechtspolitiker
Franz Schindler in einer fulminanten
Rede an die bürgerkriegsähnlichen
Zustände vor dreißig
Jahren in Wackersdorf. Der Fels
in der Brandung damals: der
Schwandorfer SPD-Landrat Hans
Schuierer, der Franz Josef Strauß
die Stirn bot und den WAA-Gegnern
Rückhalt gab. Franz Schindler:
„41 Wasserwerfer wurden in
Wackersdorf aufgefahren, mehr
gab’s damals nicht in Deutschland,
V-Leute wurden in Bürgerinitiativen
eingeschleust, eine
Verbindung der WAA-Gegner zur
RAF unterstellt.“ Doch alle Fisimatenten
halfen nichts, am Ende
waren die WAA-Gegner erfolgreich.
Es bleibe die mahnende Erinnerung:
„Wie schnell ein demokratischer
Freistaat zum Atomstaat
mutieren kann!“

Manchmal geschehe die Wandlung
aber auch langsam und schleichend, gibt die ehemalige
SPD-Landtagsabgeordnete Hildegard
Kronawitter im Gespräch mit
ihrem SPD-Kollegen Volkmar
Halbleib zu bedenken. Es sei ja
nicht so gewesen, dass am 31. Januar
1933 „einfach der Schalter
umgelegt“ worden sei.

An die bittere Zeit der Verfolgung
erinnert auch Ludwig Hoegner,
ein Urenkel des ersten Nachkriegsministerpräsidenten
Wilhelm
Hoegner. Der Informatiker,
Jahrgang 1979, zitiert die erstaunlichsten
Artikel aus der von seinem
Urgroßvater maßgeblich
konzipierten bayerischen Verfassung.

Und am Ende greift DGB-Jugendsprecherin
Melanie Geigenberger
mit einem Slam-Beitrag
ohne Punkt und Komma nach
den Sternen. Der Geist des 8. November
1918 ist lebendig, auch
bei den 25-Jährigen.
(Florian Sendtner)

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