Kommunales

Vielen Patienten ist sehr daran gelegen, sich mit ihren Pflegekräften in ihrer Muttersprache verständigen zu können. (Foto: Bilderbox)

01.06.2012

Bald EU-weite Ausschreibung der Pflege?

Kommunen sehen sich durch neue Richtlinie von Binnenmarktkommissar Barnier zur Dienstleistungskonzession bedroht

Die neue Richtlinie der Europäischen Union zu Dienstleistungskonzession könnte womöglich auch den Sozialsektor betreffen, fürchten die kommunalen Spitzenverbände im Freistaat und versuchen derzeit über ihr gemeinsames Europabüro in Brüssel, Einfluss auf die konkrete Ausformulierung des Gesetzes zu nehmen. Sollten sich aber die Befürworter der Konzession durchsetzen, dann müssten wohl bald sämtliche Leistungen für die Empfänger von Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe europaweit ausgeschrieben werden. Das könnte in Bayern mindestens 10 000 Menschen betreffen, womöglich aber deutlich mehr, rechnet Reinhold Frank, stellvertretender Geschäftsführer des Verbands der bayerischen Bezirke, vor.
Die Bezirke erbringen derzeit nach Paragraph 5 ff. des Sozialgesetzbuches 12 die meisten Leistungen für sozial bedürfte Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Sollte die Staatsregierung ihre Ankündigung umsetzen, die ambulante und stationäre Hilfe zur Pflege bei den kreisfreien Städten und Landkreisen zu konzentrieren, wäre auch diese kommunale Ebene massiv betroffen. Bisher schließen die Kommunen mit den Anbietern sozialer Dienstleistungen – dazu gehören private Firmen ebenso wie die Caritas oder die Diakonie – ihre Verträge direkt und nach eigenem Ermessen ab. Eine Ausschreibung findet nicht statt. „Der Abschluss von Leistungsvereinbarungen mit den Leistungserbringern muss unbedingt vergaberechtsfrei bleiben“, fordert Manfred Hölzlein, der Präsident des Verbands der Bezirke.
Das hieße nämlich im schlimmsten Fall, dass für jeden einzelnen Patienten die detailliert zu erbringenden Leistungen europaweit ausgeschrieben werden müssten. Bisher werden in der Regel alle Bewohner eines Hauses von einem Anbieter versorgt. So könnte dann aber am Ende in einem Pflegeheim der Patient im einen Zimmer von einer polnischen Pflegerin, der Patient im Nachbarraum von einer rumänischen Pflegerin versorgt werden – die beide bei völlig unterschiedlichen Unternehmen beschäftigt sind. „Das ist auch praktisch gar nicht umsetzbar“, warnt Vize-Geschäftsführer Frank. Doch den Anbietern winken lukrative Geschäfte. In einem einzigen Heim mit etwa 300 bis 400 Bewohnern kann der Umsatz rasch mehrere Millionen Euro erreichen.
Der Sozialsektor ist nur der nächste Schritt in einer Reihe von Projekten des EU-Binnenmarktkommissars Michel Barnier. Vorher hatte sich der Franzose bereits die Wasserversorgung vorgenommen. Auch bei dieser strebt Barnier eine weitgehende Freigabe innerhalb der Gemeinschaft an. Auch die Rettungsdienste stehen auf seiner Agenda. „In Frankreich herrscht da ein völlig anderes Denken und eine andere Struktur als in Deutschland“, erläutert Andrea Gehler, die in Brüssel das gemeinsame Europabüro der bayerischen Kommunen leitet. Im Nachbarland gibt es etwa bei der Wasserversorgung nur drei, vier große nationale Anbieter. Und auch die sozialen Dienstleistungen liegen in der Hand weniger landesweit tätiger Unternehmen.
Viele Mitstreiter haben die Deutschen bei ihrem Kampf freilich nicht. In den südeuropäischen Ländern und in den Benelux-Staaten präsentiert sich die Lage wie in Frankreich. Lediglich die Österreicher argumentieren ähnlich.
Nach eigenen Angaben möchte Kommissar Barnier „mehr Transparenz und Wettbewerb“ schaffen. Viele Unternehmen würden wegen einer fehlenden Gesetzesgrundlage vor dem Abschluss eines Konzessionsvertrages zurückschrecken. Außerdem verweise „die große Zahl an Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in den vergangenen Jahren auf einen dringenden EU-weiten Regelungsbedarf hin“. Aus Bayern machte zuletzt der Streit zwischen dem privaten Rettungsdienst und Krankentransport Stadler mit dem Zweckverband für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung Passau vom März 2011 Schlagzeilen.
Die bayerischen kommunalen Spitzenverbände setzen jetzt bei ihrer Intervention vor allem darauf, dass in die Richtlinie höhere Freigrenzen für den Inhalt der Pflegeleistung aufgenommen werden. „Das ist momentan unsere wichtigste Baustelle, aber noch haben wir eine Chance“, ist Andrea Gehler überzeugt. Derzeit beschäftige sich der Binnemarktausschuss des EU-Parlaments mit dem Sachverhalt. Als wichtigste Fürsprecherin ihrer Sache unter den bayerischen Parlamentariern haben die Kommunen die Schweinfurter Abgeordnete Anja Weisgerber ausgemacht.
Ob die Staatsregierung helfen kann, ist fraglich. Sollte die EU-Richtlinie tatsächlich kommen, müsste sie vom bayerischen Wirtschaftsministerium auch entsprechend umgesetzt werden. Der Interpretationsspielraum ist eher gering. Immerhin haben alle Fraktionen im Landtag das Kabinett aufgefordert, im Bundesrat einen Antrag für eine sogenannte Subsidaritätsrüge einzubringen. Grund: Vor allem die schwerwiegenden Wettbewerbsverzerrungen und die Marktabschottung, mit der Kommissar Michel Barnier seinen Regelungseifer rechtfertigt, seien nicht belegt. (André Paul)

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