Kommunales

Von der bayerischen Grenzstadt Selb im Landkreis Hof sind es nur wenige Autominuten bis ins tschechische Asch – nach Polizeirecherchen einem der Hauptumschlagsplätze für Crystal im Nachbarland, besonders auf den dortigen so genannten Vietnamesen-Märkten. (Foto: dpa)

05.06.2015

Das Fichtelgebirge wird zum "Crystalgebirge"

Eine Studie der Universität Bayreuth dokumentiert die Eskalation des Problems mit der Modedroge in Oberfranken

Es sind nur wenige Kilometer vom oberfränkischen Selb ins tschechische Asch, nach nur 15 Minuten steht man schon auf dem Asiamarkt der 13 000-Einwohner-Stadt. Und dort wird – unter mafiosen Strukturen – kiloweise Crystal Meth gehandelt. Und weil die Grenzen zwischen Tschechien und Deutschland offen sind, ist es auch ganz einfach für bayerische Süchtige, kurzfristig hinzufahren und sich mit der Droge einzudecken.

Die Polizei berichtet bereits seit 2008 darüber, 2012 begann der Psychologe und Psychiater Roland Härtel-Petri, damals noch am Bezirksklinikum Bayreuth tätig, mit dem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch die wirklich große Aufreger-Welle im Rest der Republik, die steht immer noch aus. Hartnäckig hält sich der Tenor: Crystal sei ein nordostbayerisches Problem, weil die Region eben an Tschechien grenzt.
Im Rahmen ihres Masterstudiengangs am Lehrstuhl für raumbezogene Konfliktforschung der Universität Bayreuth haben Nachwuchsgeografen – altersmäßig alle etwa Mitte 20 – untersucht, welche Bedeutung Produktion, Handel und Konsum von Crystal für den Raum Oberfranken haben.
Und dabei eine beachtliche Fülle an Material gesichtet und bearbeitet: 22 Interviews mit Ärzten, Patienten und Polizisten, 7200 Datensätze der Polizei, 147 Zeitungsartikel sowie Antwortbögen von 439 Suchtberatungsstellen. Das Ergebnis: „Während im Westen der Bundesrepublik nur vereinzelt Personen mit Crystal Meth aufgegriffen werden, ist eine starke Ballung der Aufgriffsorte an der deutsch-tschechischen Grenze ersichtlich. Es steht fest, dass (...) Oberfranken zu den am stärksten betroffenen Regionen gehört.“
Das Fichtelgebirge als „Crystalgebirge“, Bayreuth eine „Kristall-Stadt“. Auf solche Etiketten und Schlagworte sind die Studenten gestoßen. Ist Oberfranken also ein Modedrogen-Paradies?
„Die Studienergebnisse decken sich „voll mit den Erfahrungen, die ich – in nur 2,5 Kilometern Entfernung von den Ascher Vietnamesenmärkten – seit 30 Jahren mache“, sagt Lothar Franz, Chefarzt der Bezirksklinik in Rehau (Landkreis Hof). Er warnt: „Das ist eine gewaltige Herausforderung, die da auf unsere Grenzregion zurollt, schon zugerollt ist. 60 Prozent unserer Suchtkranken waren in den letzten zwei Jahren durch Crystal betroffen.“ Da ist mehr als die Hälfte aller Junkies. Seit ein paar Wochen hat sich das laut Franz noch weiter verschärft: „Wir haben kaum mehr einen Suchtkranken, der nicht mit den Kräutermixturen zu tun hat. Das könne die nächste Welle sein.“ Mit dieser Einschätzung der Lage ist er nicht allein: „Crystal-Abhängige sind nach den Alkoholabhängigen die stärkste Gruppe in unserer Suchtberatung und haben die Canabis-Süchtigen abgelöst“, sagt Eva Rieger von der Beratungsstelle für Suchtfragen der Diakonie Bayreuth.
Doch was bedeutet das für das Image der Region? Die Studenten von Professor Martin Doevenspeck haben überregionale Medien analysiert und konstatieren: Das Thema werde teilweise „sensationalisiert“ und „unzweifelhaft wird Oberfranken als Region beschrieben, die sich schlicht aufgrund des erhöhten Vorhandenseins von Crystal Meth von anderen Regionen Deutschlands unterscheidet.“ Ergo: Oberfranken sei stigmatisiert. Allerdings: Die Studenten hatten auch nur nach Artikeln gesucht, die beide Stichworte „Oberfranken“ und „Crystal“ beinhalteten. Dass Medien dazu beitragen, die Gefahren des Crystal-Konsums einer breiten Öffentlichkeit bekanntzumachen und damit auch zur Prävention beitragen, das allerdings räumen die Studienmacher ein.

Kürzlich wurde ein Dealer mit vier Kilo geschnappt


Doch die Experten von Polizei und Ermittlungsbehörden betonen die gesamtgesellschaftliche Dimmension der Crystal-Problematik, die aufgrund des Forschungsgegenstans „Oberfranken“ in der Studie zu kurz kommt. So erläutert der oberfränkische Polizeipräsident Reinhard Kunkel: „Die Verfügbarkeit von Crystal ist in Oberfranken hoch, es ist leichter zu beschaffen als andernorts in Bayern und es ist billiger. Insofern haben wir hier auch eine Konsumentenszene. Aber wir werden auch als Transitland genutzt.“ Schließlich seien nach dem Mauerfall Verkehrswege optimiert worden, und so könnte Crystal „über gut ausgebaute Straßen und immer besser werdende Bahnanbindungen“ in die Bundesrepublik gelangen.
„Wir haben hier eine Infrastruktur, die den Markt einfach befördert“, meint der Leitende Oberstaatsanwalt aus Hof, Gerhard Schmitt, und berichtet von den immer größer werdenden Schmuggelmengen: „Früher waren das ein bis drei Gramm, dann kamen die ‚Einkaufsgenossenschaften’ mit bis zu 20 Gramm, jetzt sind wir schon im Kilogramm-Bereich.“ Schmitt erzählt von einem Türken, der mit 1,7 Kilogramm in die Schweiz unterwegs war und einem vietnamesischen Kurier, der sogar vier Kilogramm nach Leipzig bringen wollte. „Der Handel hat sich gewissermaßen professionalisiert.“
Doch dass diese Entwicklung in der Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist, erklärt sich Schmitt sarkastisch: „Ich glaube, noch ein Jahr, dann wird auch in München danach gesucht und etwas gefunden. Und wenn in Bayern etwas in München ein Problem ist – erst dann ist es auch ein bayernweites Problem.“
Immerhin: Das bayerische Justizministerium wirkt bereits sensibilisiert. Im Haus von Ressortchef Winfried Bausback (CSU) beobachte man nach eignem Bekunden die Veränderungen in den geschmuggelten Mengen ganz genau und erkenne die Strukturen organisierter Kriminalität. Außerdem: Die in der Grenzregion ermittelten Täter stammten auch aus Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und inzwischen vermehrt „auch aus anderen bayerischen Regionen“, wie eine Sprecherin mitteilte. Besonders in den Ballungszentren München und Nürnberg gebe es zunehmend Ermittlungsverfahren bei den Staatsanwaltschaften.
Die Assoziation „Crystal = Nordostbayern“ hat aus Sicht des oberfränkischen Polizeipräsidenten vor allem mit den Fahndungserfolgen der Polizei zu tun. „In Oberfranken wird das Problem klar identifiziert und es wird hier etwas dagegen gemacht.“ Kunkel prophezeit: Würden in Oberfranken alle Fahnder abgezogen, würde Crystal aus den Statistiken verschwinden und es gäbe kein offizielles Crystal-Thema in Oberfranken mehr. Die hiesige Polizei habe mittlerweile eine hohe Expertise bei der Fahndung nach Crystal entwickelt. „Unsere Leute sind zum Beispiel beim Aufgriff von Bodypackern – Personen, die Crystal in Körperöffnungen verstecken oder verschlucken – erfolgreicher als Polizisten in anderen Regionen.“
Dass andere Bundesländer sehr viel weniger mit Crystal zu tun haben, könnte eben dieser spezialisierten Polizeiarbeit in Oberfranken zu verdanken sein: „Jedes Gramm, das wir hier in Oberfranken rausziehen, entziehen wir dem Markt in den Ballungsräumen und auch in Europa“, sagt Kunkel, und fügt an: „Da lassen wir uns gerne als Crystal-Land titulieren.“ (Anja-Maria Meister)

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