Kommunales

Aus Prinzip dagegen: Für viele Demonstranten ist die Verwaltung der grundsätzliche Feind. (Foto: DAPD)

11.02.2011

"Der Wutbürger wird zur Gefahr für unsere Städte"

Ingolstadts Oberbürgermeister Lehmann über Volkszorn, repräsentative Demokratie und das Beschwerdemanagement der Kommunen

Nicht nur im Fall von Stuttgart 21 gilt: Immer öfter wehren sich Bürger gegen notwendige Infrastrukturmaßnahmen in ihrer Kommune – auch wenn diese durch demokratisch gewählte Gremien beschlossen wurden. Der Ingolstädter OB Alfred Lehmann (CSU) fordert deshalb eine kritische Diskussion zur Erweiterung der Bürgerbeteiligung.
BSZ Herr Oberbürgermeister, was haben Sie gegen mehr Mitsprache der Einwohner?
Lehmann Grundsätzlich überhaupt nichts. Im Gegenteil: Wir praktizieren das in Ingolstadt sogar intensiv, haben als einzige Stadt (außer München, wo sie gesetzlich vorgeschrieben sind) seit vielen Jahren Bezirksausschüsse. Wir bieten regelmäßig Bürgerversammlungen und Bürgersprechstunden an, verfügen über ein Bürgeramt und ein Bürgertelefon und ein Ideen- und Beschwerdemanagement. Aber wir müssen die Probleme im Auge behalten. BSZ Die da wären?
Lehmann Es herrscht momentan eine schwierige Stimmung des Unwillens im Lande. Die Menschen sind grundsätzlich eher unzufrieden mit dem Status quo – aber wenn man was verändern will, dann sind sie gegen die Veränderung. Es gibt auf der einen Seite Leute, die viel in der Welt herumkommen und staunen, was dort alles vor sich geht; auf der anderen Seite gibt es Leute, die Veränderungen scheuen. Tatsache ist: Die Veränderungsrate in Deutschland geht tendenziell zurück. Und wir brauchen hierzulande immer länger, um notwendige Prozesse voranzubringen. BSZ Die ängstlichen und beharrenden Bürger sind also selbst schuld?
Lehmann Es geht hier nicht um Schuld, sondern um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Wünsche. Natürlich sind nicht alle Menschen „dagegen“, im Gegenteil. Aber ein kleiner Teil, der es immer besser versteht, sich medial Gehör zu verschaffen, erweckt den Eindruck, eine große Mehrheit zu repräsentieren. BSZ Was sind das für Leute?
Lehmann Es gibt diesen treffenden Begriff vom „Aufstand der Satten“. Das sind Menschen, die unter besten Bedingungen leben und die keinerlei Veränderungen wünschen, weil es für sie persönlich erst mal keine Vorteile bringt. Die fragen: Wozu ein neues Gewerbegebiet, wozu eine neue Straße? Hinzu kommen Menschen, die sich aus Prinzip gern an der Verwaltung reiben, die sagen: Wenn die da oben was entscheiden, dann sind wir schon mal aus Prinzip dagegen. BSZ Wie erklärt sich Ihrer Meinung nach die große Aufmerksamkeit für diese Klientel?
Lehmann Wir Menschen haben eine grundsätzliche Sympathie für die Underdogs. Die Gegenmeinung ist eben immer die interessantere, gerade für die Medien. BSZ Also besser mundtot machen?
Lehmann Nein, keineswegs: Wir brauchen solche Gegenpositionen, aber wir müssen dafür sorgen, dass nicht kleine, gut organisierte Gruppen immer stärker die öffentliche oder besser veröffentlichte Meinung dominieren. Da wird dann schnell der Eindruck erweckt, es handele sich um einen großen Teil der Bürgerschaft. Diskussionen dürfen selbstverständlich intensiv sein, aber wir sollten darauf achten, dass sie einigermaßen die Gesamtmeinung in der Bevölkerung widerspiegeln. Wir müssen die, die sich bequem zurücklehnen und nur zusehen, dazu animieren, mitzudiskutieren. BSZ Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer eigenen Stadt nennen?
Lehmann Ja, den Nordbahnhof. Das war ein wenig attraktives Gebäude mit dem Charakter einer Baracke. Es wurde nicht genutzt, stand aber auch nicht unter Denkmalschutz. Als es dann abgerissen werden sollte, gab es Protest. BSZ Inwiefern?
Lehmann Plötzlich haben ihn einige Leute für sich entdeckt und massiv kritisiert, wie wir den Nordbahnhof nur abreißen könnten. Von hier aus seien doch die Soldaten in den Krieg abgefahren, die Flüchtlingsströme kamen an und so weiter. BSZ Wie ging diese Geschichte weiter?
Lehmann Wir haben den Abriss durchgesetzt und jetzt haben im Ausschuss sogar die Grünen, die zunächst gegen den Abriss waren, gesagt, dass die Neugestaltung gut geraten ist. BSZ Wie ist nach Ihrer Einschätzung derzeit die Stimmung unter den bayerischen Rathauschefs hinsichtlich Bürgerprotesten?
Lehmann Man hat das Grundproblem des größeren Informationsbedarfs erkannt. Wenn ich noch mal ein Beispiel aus meiner eigenen Stadt bringen darf: Bei einem Straßenbauprojekt gab es anfangs riesigen Protest. Dann haben wir auf einer Bürgerversammlung lang und offen darüber gesprochen, den Sachverhalt erklärt. Danach gab es sehr viel mehr Akzeptanz und weniger Emotionen gegen das Projekt.
BSZ Das heißt: Die Verwaltung hat Mitschuld, dass es immer mehr Wutbürger gibt?
Lehmann Zumindest müssen wir akzeptieren, dass viele Prozesse zu lange dauern und irgendwann von den Bürgern nicht mehr nachvollzogen werden können. Stuttgart 21 dauert seit über 20 Jahren, da kann sich kaum noch jemand daran erinnern, was früher mal debattiert und was alles abgewogen wurde. BSZ Die Dauer allein kann es aber nicht sein, oder?
Lehmann Dann wäre da noch die wachsende Komplexität. Selbst bei einem einfachen Bebauungsplan liegen heute manchmal Hunderte Seiten vor. Schlimm ist auch die weltfremde Sprache. Da werden neu zu pflanzende Bäume an einer Allee „Straßenbegleitgrün“ genannt. BSZ Wie reagieren Sie darauf?
Lehmann Wir haben unter anderem für die Mitarbeiter unserer Stadtverwaltung Schulungen für den Umgang mit den Medien und der Bürgerschaft geplant. Außerdem müssen wir offensiver auf die Bürger zugehen und sie von uns aus informieren. Wir dürfen dabei nicht aus unserer Sicht argumentieren. BSZ Soziologen sprechen von einer neuen Kultur des Unbehagens.
Lehmann Und die wird auch befeuert durch die neuen Kommunikationsmittel. Früher haben Menschen einen Leserbrief geschrieben, mit der Hand, und bevor sie ihn abschickten, lieber noch mal drauf geschaut und vielleicht gesagt: Das war jetzt wohl doch zu harsch formuliert. Heute twittern und bloggen immer mehr drauf los, oft in einer unzumutbaren Sprache. Man übernimmt weniger Verantwortung für das, was man sagt. Vieles funktioniert nach dem Prinzip „trial and error“ – ich behaupte einfach mal was, wenn es nicht stimmt, wird mir schon jemand widersprechen und wenn nicht: auch gut. BSZ Besteht durch die wachsende Zahl an Bürgerinitiativen nicht auch die Gefahr, dass demokratisch gewählte Institutionen wie Bürgermeister und Gemeinderat in ihrer Bedeutung immer weiter relativiert werden?
Lehmann Es ist schick, die Kompetenz der gewählten Politiker anzuzweifeln. Das gilt nicht nur für uns, sondern beispielsweise auch für andere Institutionen und Organisationen. Im parlamentarischen Betrieb werden vor allem die Volksparteien leiden, denen es früher besser gelang, unterschiedliche Positionen zusammenzuführen. BSZ Also ist Stuttgart 21 eine Zäsur für die deutsche Kommunalpolitik?
Lehmann Das wiederum glaube ich nicht. Der Protest verändert sich schon wieder. Die Menschen haben ein gutes Gespür, was gut und sinnvoll ist und wann eine Sache aus dem Ruder läuft. Sie haben der Verwaltung Beine gemacht, das war ihr Anliegen, aber jetzt soll wieder vernünftig gearbeitet werden. (Interview: André Paul)

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