Kommunales

Ein älteres Paar bringt seine Einkäufe nach Hause: In knapp 20 Jahren wird ein Drittel der Menschen in Bayern über 60 Jahre alt sein. (Foto: dpa/Silas Stein)

15.07.2022

Die Lebensqualität im Alter hängt vom Wohnort ab

Warum Kommunen in der Senior*innenpolitik eine wachsende Bedeutung zukommt – und in viele Gemeinden eine entsprechende Infrastruktur fehlt

Menschen über 65 Jahre zählen noch lange nicht zum sogenannten „alten Eisen“. Im Gegenteil, ihre Leistungen und ihre Erfahrungen bereichern unsere Gesellschaft. Obwohl Studien belegen, das Altern nicht gleichzusetzen ist mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit, ist trotzdem ein Festhalten an klischeehaften und defizitorientierten Altersbildern weit verbreitet. Dabei ist es dringend Zeit umzudenken. Die historischen Stereotypen für Alter wie Armut, Vereinsamung und Gebrechlichkeit sind längst überholt. Das neue Kompetenzmodell unterstreicht die Potenziale und Chancen der dritten und vierten Lebensphase.

Ältere Menschen sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Mitte des 21. Jahrhunderts wird gut jede(r) dritte Einwohner*in Bayerns bereits 60 Jahre oder älter sein. Die Zahl der über 85-Jährigen in Bayern steigt bis zum Jahr 2050 auf 600.000 und wird dann fast dreimal so hoch sein wie derzeit. Dank medizinischem Fortschritts und einer immer bewussteren und gesünderen Lebensweise hat ein Kind, das heute geboren wird, eine 50-prozentige Chance, 100 Jahre alt zu werden. Bei Menschen, die um das Jahr 1900 geboren wurden, betrug die Chance, dass sie ihr 100. Lebensjahr erreichen würden, nur etwa ein Prozent.

Im Rahmen einer Veranstaltung der Ad hoc-Arbeitsgruppe Zukunftswerte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) wurden im Rahmen einer Podiumsdiskussion unter dem Motto „Leben im Alter. Zwischen Freiheit und Sicherheit“ die unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben im Alter diskutiert. Der demografische Wandel führe dazu, dass die Aufgabe drängender wird, geeignete Rahmenbedingungen für einen Strukturwandel zu schaffen. Erforderlich dafür sei eine breite öffentliche Debatte.


Rahmenbedingungen für Strukturwandel schaffen

Lebensqualität im Alter hängt im besonderen Maße von den Umständen am Wohnort ab. Deshalb kommt Kommunen in der Senior*innenpolitik eine große Bedeutung zu. Angesichts dessen sind Landkreise und kreisfreie Städte nach Artikel 69 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) verpflichtet, integrative regionale seniorenpolitische Gesamtkonzepte zu entwickeln. Vor Ort entscheidet sich nicht nur, ob eine gute Versorgung durch Dienste und Einrichtungen gesichert ist – sondern gerade freiwilliges Engagement und soziale Netzwerke dieser Bevölkerungsgruppe können kommunales Leben stärken. Dazu müssen Kommunen in die Lage gesetzt werden, ihre Aufgaben bedarfsgerecht zu erfüllen. Dies sind beispielsweise barrierefreie Zugänge, Teilhabemöglichkeiten, ausreichende Infrastruktur (Geschäfte, ärztliche Versorgung etc.), Unterstützungsmöglichkeiten zu Hause bis hin zu verschiedenen Wohnformen im Alter.

Schon seit Jahren zeichnet sich ab, dass es im Bereich der kommunalen Senioren*innenpolitik kaum noch Erkenntnis-, wohl aber Umsetzungsprobleme gibt. Deshalb hat sich die Bertelsmann Stiftung neben anderen Akteuren (Generali Zukunftsfond etc.) entschieden, außer Digitalisierungsthemen keine weiteren kommunalen senior*innenpolitischen Projekte zu bearbeiten und die Website Sozialplanung für Senioren nicht mehr zu aktualisieren. Zielsetzung der 2019 eingeführte BAdW-Arbeitsgruppe ist es, im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsansatzes aus historisch-kritischer, empirischer und normativer Perspektive Impulse für die Politik zu setzen. Allerdings blieb an diesem Abend das vom Ringen um Wertvorstellung etwas überfrachtete Gespräch des Podiums hinter den Erwartungen der Gäste zurück.

Inzwischen gibt es eine kaum noch überschaubare Anzahl von Modellprojekten, guten Beispielen, Studien, Publikationen oder auch Veranstaltungen zur kommunalen Gestaltung einer zukunftsorientierten Seniorenpolitik. Dem entgegen haben von 2127 bayerischen Gemeinden, Märkten und Städten gerade einmal 346 einen Senior*innenbeirat; nicht einmal die Hälfte davon wurde gewählt. In vielen Kommunen wird einfach eine Person, die bereits ein anderes Amt ausübt, als Senior*innenvertretende benannt.

Kaum noch überschaubare Zahl von Modellprojekten

Angesichts der bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten geführten Diskussion um den demografischen Wandel wirkt es befremdend, dass kommunale Senior*innenenpolitik in der Zukunftsstrategie der Heimatpolitik der Landesregierung keine besondere Rolle zu spielen scheint. Zwar werden mit pilothaften Förderprojekten innovative Lösungen für regionale Herausforderungen gezielt erprobt – aber allein schon darin, der älteren Bevölkerung eine gewichtige Stimme zu geben, fehlt die gebotene politischen Entschlossenheit.

Die Initialisierung des Bayerischen Seniorinnen- und Seniorenmitwirkungsgesetz hat immer noch nicht Fahrt aufgenommen. Solche Gesetze gibt es in der Zwischenzeit in vier Bundesländern, in Berlin bereits seit 2006. Im Freistaat hingegen hat es nach langem Zögern im Jahr 2020 endlich vier Fachdialoge dazu gegeben, außerdem eine Online-Befragung. Im Januar 2021 sind die Ergebnisse vorgestellt worden, seitdem tue sich kaum etwas.

Auf politischer Ebene, so betonte Jakob Kruse, emeritierter Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und ehemaliger Vorsitzender der Altersberichtskommissionen der Bundesregierung, hätte sich dennoch über die Jahre ein Wandel gezeigt. Dazu, dass die vom reinen Versorgungsgedanken dominierte Politik aufgegeben wurde, hätten auch die seit 1993 in jeder Legislaturperiode erscheinenden Altersberichte beigetragen.

In digitaler Begleitung steckt enormes Potenzial

Auch war sich das Podium – dazu gehörten Heiner Bielefeldt, Lehrstuhlinhaber für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Jens Benninghoff, Chefarzt des Zentrums für Altersmedizin und Entwicklungsstörungen (ZfAE) am Isar-Amper-Klinikum München-Ost, und Helga Pelizäus von der Universität der Bundeswehr München – darüber einig, dass gerade bei der digitalen Begleitung älterer Menschen durch die Entwicklung von Smarthome- Produkten enormes Potenzial steckt. „Assistierte Autonomie durch digitale Souveränität ist für ältere Menschen eine Form der assistierten Freiheit“, glaubt Jakob Kruse.

Politik für ältere Menschen voranzutreiben, bleibt derzeit – so die Meinung der Expert*innen und Gäste – „ein wichtiger Punkt im Pflichtenheft der gewählten Parlamentsvertretungen“. Bedauerlicherweise würde – und darauf wies besonders Benninghoff hin – „im Politikbetrieb zu oft nach dem Subsidiaritätsprinzip verfahren“. Veranstaltungen wie die der BAdW könnten helfen, „eine öffentliche Debatte auszulösen und einen dringend benötigten gesellschaftlichen Umbau zu initiieren“. Denn ohne ein Umdenken verliere die Gesellschaft an Vielfalt und an Ressourcen. (Rebecca Koenig)

 

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