Kommunales

Für den neuen Mädchenchor bestehe bereits weltweites Interesse, berichtet Schulleiterin Christine Lohse – obwohl der Knabenchor mehr als tausend Jahre älter ist. (Foto: Michael Vogl)

03.03.2023

"Die Mädchen tun diesem Bubenhaus sehr gut"

Nach dramatischen Einbrüchen bei der Bewerberzahl infolge von Pandemie und Missbrauchsskandal versuchen die Regensburger Domspatzen einen Neuanfang

Auch für die Regensburger Domspatzen ereignet sich gerade eine Zeitenwende. Nach über tausend Jahren Chorgeschichte schlägt das Lehrinstitut eine neue Richtung ein – schmerzhaft sensibilisiert durch einen verheerenden Missbrauchsskandal, mit einer ersten Frau an der Spitze des Gymnasiums und einem ersten Mädchenchor.

Über dem Campus hängen an diesem Vormittag dichte Wolken. Doch drinnen ist es hell und geschäftig. Wie in jedem Jahr haben Grundschule, Gymnasium und Internat zu einem ersten Kennenlernen und Vorsingen eingeladen – und das Angebot wird zahlreich genutzt. Buben und Mädchen aus ganz Deutschland wollen wieder Domspatz sein. Die zehnjährige Angelina Dreier ist aus Bamberg angereist, um einen Termin für das Vorsingen zu machen. Cosima vom Tegernsee ist bereits eine erfahrene Chorsängerin und nutzt ihre Chance gleich. Minuten später erfährt sie von Domkapellmeister Christian Heiß, dass sie genommen wird. Das Mädchen hat Freudentränen in den Augen.

An die 60 Interessierte haben sich bei diesem Tag der offenen Tür angemeldet. Gekommen seien dann sogar mehr als 70, berichtet Pressesprecher Marcus Weigl nicht ohne Stolz. „Schon 2021 konnten wir wieder 50 Buben und erstmals für September 2022 auch 33 Mädchen gewinnen.“ Die neuen Domspatzen kommen nicht nur aus der Bundesrepublik, sondern auch aus dem Ausland – wie etwa Victor Comanici aus Bukarest, der seinem berufsbedingt hier tätigen Vater nach Regensburg folgte und in die Mittelstufe einstieg.



Auch Marlene Nitt aus Wilhelmshaven ist Quereinsteigerin in die 11. Klasse und Teil des ersten Mädchenchors bei den Regensburger Domspatzen – ein Novum bei den großen Dom-Kantoreien. „Unter den berühmten großen Chören sind wir hier Vorreiter“, erläutert Studiendirektorin Christine Lohse. Sie ist Schulleiterin am Musikgymnasium und die erste Frau in dieser Funktion bei den Domspatzen.

 

Eltern sensibilisieren für mögliche Gefährdungen


Marlenes Entscheidung für die Domspatzen fiel leicht. Der Vater ist Kirchenmusiker. Sie habe Verwandtschaft in Regensburg und auch an der Schule, sagt die 16-Jährige. Der Wechsel von einem normalen Gymnasium zu den Domspatzen war dennoch „ein großer Sprung, verrät das Mädchen. „Das Internat fühlt sich aber gut an, weil wir eine schöne Gemeinschaft haben.“ Die Mädchen würden sehr gut aufgenommen. „Wir halten hier alle zusammen. Man kennt sich durch die Chorarbeit, auch über die Jahrgänge hinaus. Das ist wirklich toll“, meint Marlene zufrieden. Gemeinschaft und Chor seien „einmalig“.

Für Angelinas Eltern ist vor allem „dieser soziale Aspekt“ entscheidend. „Neben der hervorragenden Ausstattung und der geringen Klassenstärke können die Kinder hier Freundschaften fürs Leben schließen“, sagt Mama Jennifer Dreier. „Vieles können Lehrer an großen Gymnasien oft nicht leisten.“ Dafür nimmt Angelina auch täglich zwei Stunden Busfahrt in Kauf.
Dass die enge Gemeinschaft in der Vergangenheit auch dunkle Seiten förderte, ist den Eltern bewusst. „Natürlich haben wir auch über Missbrauch gesprochen. Wir waren erst sehr erschrocken“, sagt Vater Christian und glaubt, vieles sei „aufgestachelt“.

Mutter Jennifer, selbst Absolventin einer mono-edukativen Schule, widerspricht: „Es war sicher sogar schlimmer, als wir gehört haben.“ Deshalb hat die Familie mit der Tochter über Grenzen gesprochen und über Geheimnisse. „Es gibt gute Geheimnisse, die machen Spaß im Bauch“, sagt Jennifer, „und ungute, die sind schwer und machen einen Knoten im Bauch. So ein Geheimnis darf auf keinen Fall eines bleiben.“ Angelina nickt zustimmend. Sie hat das im Kindergarten gelernt. Angst hat sie keine. Stattdessen freut sie sich auf die Domspatzen. Wegen des Vorsingens sei sie aber doch etwas nervös.

 

„Gute Stimmen waren wichtiger als das Kindeswohl“


Schulleiterin Christine Lohse weiß um die Herausforderung, die aus der jüngeren Geschichte der Domspatzen erwächst. „Der stellen wir uns ausdrücklich“, sagt sie. „Domkapellmeister Christian Heiß und ich haben uns klar dafür ausgesprochen: In diesem Haus, unter unserer Führung, soll es den Kindern gut gehen. Wir haben eine hohe Verantwortung, dass wir zuerst auf die Kinder schauen.“



Nachdem 2010 ehemalige Schüler von Misshandlungen und Missbrauch durch Lehrer, Schulleiter und Geistliche berichtet hatten, war die Reputation der weltberühmten Chorausbildung dahin. Mehr als 3,7 Millionen Euro sogenannter Anerkennungsleistungen hat das Bistum Regensburg an 376 Betroffene von körperlicher und sexualisierter Gewalt bei den Domspatzen bezahlt. Der 2017 veröffentlichte Abschlussbericht stufte die Schilderungen von mehr als 500 Opfern als „hoch plausibel“ ein. 2019 legten die Vertreter der Opfer eine ausführliche historische und eine sozialwissenschaftliche Studie zu den Vorgängen (1945 bis 1995) an der Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen, dem Musikgymnasium und dem Internat vor.

Darin wurde den Verantwortlichen unter anderem vorgeworfen, dass „der Chor immer wichtiger war als das Wohl des Kindes“, so die Autoren der historischen Studie, Bernhard Löffler und Bernhard Frings. „Es ging nur um gute Stimmen für den Chor.“ Löffler kritisierte zudem die „undurchlässige Struktur“ bei den Domspatzen. Sie sei derart verwickelt angelegt worden, sagt Löffler, „dass ein unvoreingenommener Blick von außen erschwert wurde“. Hinzu kamen mangelnde Kontrolle und „bewusstes Wegschauen“ durch übergeordnete Instanzen – etwa das bayerische Kultusministerium – und auch durch Teile der Elternschaft. Die machten es möglich, dass sich Gewalt (auch sexuelle) über 50 Jahre in einem „System des Verbergens, Verleugnens und Vertuschens“ halten konnte.

 

Ganz ist das alte System noch nicht verschwunden


Ganz ist dieses System noch nicht beseitigt – etwa, wenn die Neulinge allzu unbedarft aus dem Nähkästchen plaudern: über Dinge, die ihnen nicht gefallen. Oder wenn Pressesprecher Weigl nicht von einem System des Vertuschens sprechen will, sondern befindet: „Viele, auch bei den Verantwortlichen, waren sicher mit der Situation überfordert.“

 Erst nach anhaltendem Druck der Öffentlichkeit hatte Bischof Rudolf Voderholzer die Kehrtwende vollzogen und aktiver an der Aufarbeitung teilgenommen. Sein Vorgänger, der heutige Kurienkardinal Gerhard Müller, machte lieber gegen Medien und Kritiker*innen mobil und sprach gegenüber Schülern und Eltern von „Neid und Eifersucht auf die musikalische Erfolgsgeschichte“ der Domspatzen. 2015 wollten nur noch 33 neue Schüler dazugehören – ein Negativrekord in mehr als tausend Jahren. Der geplante dreizügige Aus- und Neubau des Gymnasiums wurde kurzfristig gestoppt, man brauchte diese Kapazitäten ja nicht mehr.

Für die drei Knabenchöre und den neuen Mädchenchor war die Zeitenwende bei den Domspatzen ein Segen. „Vor allem die Mädchen tun diesem Bubenhaus sehr, sehr gut“, sagt Schulleiterin Christine Lohse. „Ich bin ja an diese Schule gekommen wegen der Tradition der Knabenchöre, die auch durch die Mädchen nie infrage stand, und wegen dieses großartigen Bildungskonzepts“, sagt sie. Nach dem Ausbau waren die Kapazitäten vorhanden. Die Zeit war reif. „Das große internationale Interesse am Mädchenchor überwältigt uns. Für die Mädchenbildung ist es gut, für das Mädchenmusizieren und für die katholische Kirche ist es gut“, sagt sie. „Es hat nur Vorteile.“ (Flora Jädicke)


Bildunterschriften zu Fotos im Text:
Domkapellmeister Christian Heiß – hier mit einem kleinen Bewerber beim Vorsingen – erkennt Talente ziemlich schnell. Familie Dreier aus Bamberg begleitet Tochter Angelina (10) zum Vorsingen. (Fotos: Jädicke)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sollen Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.