Kommunales

Rechtzeitige Einbindung der Einwohner in die Entscheidungsprozesse der Kommune kann dem Aufmarsch der „utbürger vorbeugen. (Foto: Getty)

21.10.2011

„Ein Recht auf Hinterzimmer“

Kommunale 2011: Den Wutbürger zähmen

Wie sieht der typische Wutbürger aus? Wenn man die Essenz aus den Beschreibungen von Kommunalpolitikern, die regelmäßig mit ihm und seinen verbalen Ausfällen zu tun haben, destilliert, dann am ehesten so: Wähler der Grünen, jenseits der 50, saturiert (meist durch gut dotierte Jobs im öffentlichen Dienst) und kinderlos. „In diese Welt kann man doch keine Kinder setzen“, lautete bei dieser meist linksemanzipatorischen Klientel vor 20, 30 Jahren auf dem Höhepunkt der persönlichen Fertilität ein beliebter Spruch.
Der Wutbürger ist medial überbewertet
Während einer Podiumsdiskussion auf der Messe Kommunale 2011 in Nürnberg versuchte eine prominente Runde, dieses Wesens rhetorisch habhaft zu werden. „WutbürgerInnen“ – auf die genderkorrekte Titulierung legt man in diesen Kreisen Wert – mögen in ihrer näheren Umgebung keine Atomendlager, keine Handymasten (aber bitte guten Netzempfang fürs I-Phone!), keine Biogasanlagen, keine Windräder (aber selbstverständlich die Energiewende), keine Kitas mit lauten Buben und Mädchen und, in größeren Dimensionen, keine erweiterten Bahnhöfe beziehungsweise weitere Flughafenstartbahnen.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sieht den Wutbürger medial überbewertet. „Jedes Jahr gehen in Bayern tausend Infrastruktur- und Bauprojekte völlig reibungslos über die Bühne, davon spricht aber kein Mensch. Die wenigen Fälle mit Konfliktstoff finden dann aber große öffentliche Resonanz“, versucht der auch für die Kommunen zuständige Ressortchef den Ball flachzuhalten. Gleichwohl findet Herrmann die grundsätzliche Diskussion über öffentliche Projekte gut, gern auch mal etwas hitziger: „Es hilft viel, wenn man die Stammtische im Meinungsbildungsprozess ratschen lässt“, ist der Innenminister überzeugt.
Eine Demokratie sei schließlich kein Zuschauerbetrieb. „Ein anschließendes Plebiszit hat dann auch eine befriedigende Wirkung.“ Nun belasten den Innenminister wütende Menschen vor den Rathäusern, die in der Regel weniger Polizeischutz genießen als sein Amtssitz, eher peripher. Ganz andere Erfahrungen gemacht hat da Jürgen Busse, der Geschäftsführer des Bayerischen Gemeindetags. Ihn wurmen besonders die oberschlauen Senioren mit viel Zeit fürs öffentliche Granteln. „Die überfrachten die Verwaltungen mit überintellektuellen Anfragen und bringen die dortigen Mitarbeiter durcheinander.“ Logisch: Anders als der die Wiederwahl im Auge behaltende Bürgermeister sieht der im Rathaus angestellte Sachbearbeiter keine große Notwendigkeit, sein Handeln jeden Tag aufs neue gegenüber aufgebrachten Silver Agern zu rechtfertigen, pflichtet ihm Thomas Olk, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, bei.
In seiner Heimatgemeinde Starnberg ist Busse seit 20 Jahren als Stadtrat tätig – und beobachtet immer wieder das paradoxe Bild, wenn die Bürger im Vorfeld in Entscheidungen eingebunden werden sollen. „Da sieht man manchmal mehr Angestellte der Verwaltung als Einwohner im Saal.“ Oft steht sich die Verwaltung aber auch selbst im Weg. Zum Projekt Stuttgart 21 etwa wurde sehr früh eine Infobox entwickelt, die ziemlich anschaulich alle relevanten Fragen erklärt hätte. Zehn Millionen Euro hätte das gekostet, eigentlich eine Bagatelle bei einem Projekt, dessen Gesamtkosten mit rund 15 Milliarden Euro veranschlagt waren. Doch Land und Bund konnten sich nicht einigen, wer nun diesen Betrag übernimmt.
Für die meisten Wutbürger ist eine Baumaßnahme jedoch viel zu kompliziert, um sich im Vorfeld damit detailliert auseinanderzusetzen. Erst wenn das Planungsverfahren begonnen hat (und das ist meist nur sehr mühsam wieder zurückzuführen), dann greift er zum Plakat und zur Tröte, weil irgendjemand das Thema auf eine einfache Dafür-oder-dagegen-Schlagzeile heruntergebrochen hat.
Womöglich ist der Wutbürger aber auch nur die Nuance einer insgesamt kontinuierlich egozentrischer werdenden Gesellschaft. „Die Bereitschaft, für das öffentliche Wohl persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, nimmt in unserer Gesellschaft signifikant ab“, konstatiert nüchtern Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. „Man ist auch oft nicht mehr bereit, rechtsstaatlich abgesicherte Verfahrensabläufe zu akzeptieren“, pflichtet ihm Uwe Brandl, der Präsident des Bayerischen Gemeindetags bei.
Mitmenschen mit „diabolischem Scharfsinn“
Manche Mitmenschen setzen dabei auch ihren ganzen diabolischen Scharfsinn ein, wie Reiner Pistner (Freie Wähler), der Bürgermeister der 4000-Einwohner-Gemeinde Schöllkrippe im Landkreis Aschaffenburg zu berichten wusste. In seiner Kommune war ein Bürgerentscheid positiv für ein geplantes Projekt ausgefallen. Allerdings entdeckte ein juristisch versierter Einwohner, dem das Mehrheitsvotum nicht behagte, eine rechtlich nicht einwandfreie Formulierung in einem amtlichen Schreiben und schaffte es tatsächlich mit Widerspruchsschreiben an die Regierung von Unterfranken, die Maßnahme zu stoppen.
Völlige Transparenz kann eben schädlich sein, manchmal sollte man in einer repräsentativen Demokratie den Bürger eben doch vor vollendete Tatsachen stellen. Friedrich der Große von Preußen, ein Verfechter administrativer Effizienz bei gleichzeitiger Ausschaltung der Öffentlichkeit war sich schon vor 250 Jahren sicher: „Es steht dem Untertan nicht an, den Maßstab der beschränkten Kräfte seines Verstandes an die Entscheidungen der Obrigkeit anzulegen.“ Oder wie es Gerd Landsberg formuliert: „Wir brauchen ein Recht auf Hinterzimmer.“ (André Paul)

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