Kommunales

Laut letztem Demografiebericht des Landesamts für Statistik macht der ländliche Raum in Bayern etwa 90 Prozent der Landesfläche aus und dort leben rund 60 Prozent der Gesamtbevölkerung. (Foto: dpa)

28.05.2018

"Eine gerechte Balance ist noch immer nicht gegeben"

Die Bayerische Akademie Ländlicher Raum wird 30 Jahre alt – Präsident Holger Magel über Aufgaben und Herausforderungen der Einrichtung

BSZ Herr Professor Magel, was genau macht die Bayerische Akademie Ländlicher Raum?
Magel Wir vertreten, erforschen und vermitteln einerseits die Belange der Menschen in den ländlichen Gemeinden Bayerns und hier besonders die Aspekte ihrer sich wandelnden Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie ihres sozial- kulturellen Lebensumfelds und ihrer jeweiligen Heimat und Identität gebenden Landschaften. Dazu dienten und dienen viele Tagungen, Kolloquien, Workshops und Veröffentlichungen der letzten drei Jahrzehnte, die eindrucksvoll die große Spannweite und die unbestrittene Pionier- und Trendsetterrolle unserer Akademiearbeit aufzeigen.


BSZ Nennen Sie mal bitte ein oder zwei konkrete Beispiele!
Magel Die Akademie war zum Beispiel eine der ersten Institutionen in Bayern, die in den 1980er Jahren die aktive Bürgerbeteiligung als ein Muss in jeder Gemeinde- und Dorfentwicklung propagierte. Und sie war es auch, die bereits Anfang der 1990er Jahre auf interkommunale Zusammenarbeit und Allianzen hinwies – in einer Zeit, in der sich der Bayerische Gemeindetag noch recht schwer tat mit dieser Idee! Ähnlich war es beim Thema hoher Flächenverbrauch und notwendige Innenentwicklung.


BSZ Wie positionieren Sie sich zur Politik?
Magel Die Akademie ist gemeinnützig. Wir wollen ein kritisch-konstruktiver, aber dabei stets fairer Partner der bayerischen Staatsregierung, der Verwaltungen und der Wirtschaft in der Verfolgung einer wirklich nachhaltigen Entwicklung sein. Dies zeigt sich in gemeinsamen Tagungen mit verschiedenen Ministerien und Verbänden sowie vor allem in den vielen Stellungnahmen zu unterschiedlichsten Belangen der Entwicklung ländlicher Räume wie zum Landesentwicklungsprogramm und der Rolle der Landes- und Regionalplanung, zu Windenergie, Lockerung des Anbindegebots, Funktion des Landesplanungsbeirats; vor allem und überragend aber zum Thema gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Bayern und damit zum Thema gerechte Balance von Stadt und Land. Diese Balance ist in Bayern leider noch immer nicht gegeben.


BSZ Ergibt sich aus dieser Positionierung aber nicht zwangsläufig eine Gegnerschaft zur Stadt?
Magel Nein, wir lehnen ein „Entweder Stadt oder Land“, also die klassische Dichotomie, ab. Wir sehen die Metropolen und ihre Ballungsräume sowie die vielen prägenden Mittel-und Kleinstädte außer- und innerhalb der ländlichen Räume als unentbehrliche Partner und Funktionsträger – allerdings auf gleicher Augenhöhe.





BSZ Worum geht es in Ihrem neuen Memorandum, das Sie anlässlich des 30. Geburtstags verabschiedet haben?
Magel Wir haben darin unser Selbstverständnis erneuert und bekräftigt. Der Titel unseres Memorandums heißt Für eine gemeinsame Zukunft von Stadt und Land!, das schließt eine Unterordnung der ländlichen Räume aus. Jeder der zwei Partner hat seinen Teil beizutragen zum Nutzen einer gedeihlichen und fairen Entwicklung des ganzen Landes. „Stadt braucht Land braucht Stadt“ ist unser Motto! Dass hierbei den Schwächeren geholfen werden muss, versteht sich von selbst. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.


BSZ Aber es gibt wichtige Stimmen aus Politik und Forschung die sagen, es sei langfristig klüger und erfolgversprechender, sich fördertechnisch auf wenige urbane Großräume zu konzentrieren?
Magel Wir sind entschieden gegen Meinungen mancher Wissenschaftler und Ökonomen – insbesondere im Norden Deutschlands –, nicht weiter in periphere ländliche Räume zu investieren. Hier sind wir einer Meinung mit der bayerischen Staatsregierung. Unser gemeinsames Ziel ist die ausgewogene und nachhaltige Ordnung und Entwicklung aller Regionen Bayerns im Sinne der von der Enquetekommission des Landtags propagierten räumlichen Gerechtigkeit.


BSZ Was bedeutet räumlich gerecht?
Magel Räumlich gerecht ist es zum Beispiel nicht, wenn einzelne Boom-Räume enteilen und der Abstand zwischen Stadt und Land sogar noch größer wird. Und wenn diese Boom-Räume überdies den ländlichen Gemeinden ihre wichtigste Resource entziehen – nämlich die gut oder bestens ausgebildete junge Generation, dann ist es Zeit, noch viel energischer entgegenzusteuern und auch dem grenzenlosen Wachstum der Ballungsräume den Kampf anzusagen. Zu diesen Fragen oder zur viele Menschen bewegenden Bedrohung freier Landschaften und Natur durch maßstabslose Bebauung können wir nicht schweigen.


BSZ Was war vor 30 Jahren der entscheidende Grund, die Akademie zu gründen?
Magel Kurz zuvor war die Landesgruppe Bayern der bereits seit Ende der 1970er Jahre bestehenden Deutschen Akademie der Forschung und Planung im ländlichen Raum aus dem Bundesverband ausgetreten. Das hatte vielleicht auch ein wenig mit unserem bayerischen Dickschädel und Eigensinn zu tun. Uns hat geärgert, dass die Appelle an die Bundesspitze, den dort praktizierten Zentralismus abzustellen und den verschiedenen Landesgruppen mehr finanzielle und organisatorische Selbstständigkeit einzuräumen, nicht erhört wurden. Die Gründung am 4. Mai 1988 ging dann flott über die Bühne; wir konnten auf Anhieb einflussreiche Persönlichkeiten und Fördermitglieder in unsere Akademie aufnehmen.


BSZ Was ist Ihr programmatisches Selbstverständnis – wo Sie für manche Wirtschaftsförderer doch gern mal als Bremsklotz gelten?
Magel Wir wollen Anwalt des gesamten ländlichen Raumes und nicht nur partikularer landwirtschaftlicher Interessen sein! Uns ging und geht es darum – und ich zitiere das gerne immer wieder – fortan den Nerv der Zeit und den Nerv der Dinge mit bayerischer Identität und möglichst ganzheitlicher Sicht und Kompetenz zu treffen. Wir wollen weit über das Tagesgeschehen hinausgreifen, Probleme konzeptionell angehen und wichtige Impulse und Anstöße für die Zukunft geben.


BSZ Was würden Sie im Rückblick der vergangenen 30 Jahre als die entscheidenden Meilensteine bewerten?
Magel Ich denke da beispielsweise an unsere Leitbildtagung im salzburgischen Ort Neukirchen am Goßvenediger: „Was braucht das Dorf der Zukunft? Philosophie oder Geld – oder beides?“. Wir haben gezeigt, dass es nicht viel bringt, mehr oder weniger konzeptionslos das Füllhorn über benachteiligte Regionen und Orten auszuschütten. Neukirchen war der Start für eine beispiellose Bewegung der Leitbildarbeit in bayerischen Dörfern. Man kann sogar sagen, diese Tagung war die Grundlage für die Einsicht, nachfolgend die drei bayerischen Schulen der Dorf- und Landentwicklung als Trainingszentren und Ideenschmieden für Gemeinden zu gründen. In den frühen 1990er Jahren haben wir nach dem Rio-Gipfel den Naturschutz und nachhaltiges Handeln (Agenda 21) als zentrale kommunale Aufgabe in die Offensive gebracht. Bei der Tagung 1994 in Hohenkammer ging es erstmals um die Notwendigkeit der interkommunalen Zusammenarbeit, was eine Abkehr vom in vielen Orten seinerzeit noch praktizierten Kirchturmsdenken bedeutete. Hinzu kamen Themen wie Flächensparen, energetische Gebäudesanierung, Bauleitplanung, Bürgerengagement, Digitalisierung, Werte- und Gerechtigkeitsfragen oder die heute noch nachwirkende Flüchtlingsthematik. Wir waren so ziemlich die ersten, die dafür plädierten – aus vielen guten Gründen – Flüchtlinge auch im ländlichen Raum zu integrieren und nicht allein in der Stadt.


BSZ Und wo müssen Sie sich eingestehen, trotz allen Engagements und aller wissenschaftlichen Expertise versagt zu haben?
Magel Ganz offensichtlich versagt haben wir – oder sollte ich vielleicht sagen, auch die Staatsregierung hat versagt – bei der Frage, wieweit unsere sorgfältig erarbeiteten Kritiken und Vorschläge zum Landesentwicklungsplan (LEP) von den Ministerien akzeptiert wurden. Die Antwort ist leider ernüchternd: Unsere Vorschläge wurden zu Null akzeptiert. Euphemistisch hieß es dazu bei Beschlussfassung im Ministerrat, die Ergebnisse der Anhörungen – also die eingegangenen Stellungnahmen der Verbände – seien „berücksichtigt“ worden. Inhaltlich aber wurde kein Jota an den von uns monierten Inhalten geändert.


BSZ Aber immerhin konnten Sie doch kürzlich eine Abschwächung der Lockerung des Anbindegebots erwirken.
Magel Ja, aber das haben wir letztlich immer nur über Landtagsanhörungen und öffentlichen Druck – besonders mithilfe der Medien – erreicht. Ein besonders positives und inhaltlich befriedigendes Erlebnis war hier beispielsweise auch die Zusammenarbeit innerhalb der parlamentarischen Enquetekommission „Gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Bayern“, in der allein fünf unserer Akademiemitglieder als Experten mitwirkten. Im Aufgreifen unseres Modells der räumlichen Gerechtigkeit und vielen weiteren Vorschlägen im Abschlussbericht sehen wir uns sehr gut vertreten.

(Interview: André Paul)


Bildunterschrift: Holger Magel (74) stammt aus Neuburg a. d. Donau.
(Foto: TUM)

Gefeiert wird das 30-jährige Bestehen am Mittwoch, 13. Juni 2018, in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz mit einem Staatsempfang.

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