Kommunales

Vom Hell-Feld reden Experten, wenn Taten auch angezeigt wurden – was gerade wegen Corona oft nicht der Fall gewesen sein kann. (Foto: dpa/F. Destoc)

10.07.2020

Prügelattacken im Dunkeln

Experten erwarteten wegen Corona mehr Fälle häuslicher Gewalt – zumindest die offiziellen Zahlen belegen das derzeit nicht

Die Fallzahlen von häuslicher Gewalt haben sich während der Corona-Krise nicht erhöht, teilweise sind sie sogar leicht zurückgegangen. Das melden Polizei und Opferschutzverbände in Augsburg übereinstimmend.

Doch, dass es bei der oft räumlichen Enge und langen Isolation in einzelnen Familien nicht zum Eklat gekommen sein soll, will kaum ein Experte glauben. „Wir reden hier vom Hell-Feld, von den Fällen, die bei der Polizei angezeigt wurden“, sagt etwa die Opferschutzbeauftragte des Polizeipräsidiums Schwaben Nord, Sabine Rochel. Dass wirklich nichts passiert ist, sagten diese Zahlen nicht. Andere Experten, wie der Gewalt- und Konfliktmanager Jürgen Schaffrath, befürchten sogar: „Da könnte noch eine Welle auf uns zukommen!“

Selbst Mensch ärgere Dich nicht macht einige aggressiv

20 045 angezeigte Fälle von häuslicher Gewalt gab es laut Polizei 2019 in Bayern, in Augsburg waren es 1529. In mehr als einem Drittel der Fälle waren dabei Kinder anwesend oder Opfer. Die Zahlen des Corona-Lockdowns sind noch nicht zusammengetragen, doch gibt es laut Polizei keine Auffälligkeiten.

Bei der Ehe- und Familienberatung der Diözese Augsburg hatte man sich auf einen großen Ansturm vorbereitet und die Telefonberatungsplätze stark ausgeweitet, berichtet Leiterin Helga Simon-Saar. „Das Gegenteil war der Fall, wir haben viel weniger Anrufe als in normalen Zeiten“, wundert sie sich. Auch sie vermutet, dass mit ansteigender Normalität auch die Fallzahlen nach oben gehen könnten.

Die Erfahrungswerte aus anderen Ländern zeigten, dass nach längerer Isolation eine „Welle“ von Hilferufen wegen häuslicher Gewalt zu erwarten ist, sagt der Gewaltexperte Jürgen Schaffrath. Seit über 25 Jahren beschäftigt sich der Polizeibeamte und Einsatztrainer mit Gewalt- und Konfliktvermeidung und schult als Coach unter anderem Jugendämter, Jobcenter und die öffentliche Verwaltung. In seinem Projekt „Heldenzeit“ lernen Kinder, wie sie durch selbstbewusstes Auftreten aus der Opferrolle kommen können. Gewaltopfer hätten gerade wenig Möglichkeiten, sich Freunden oder den Behörden zu offenbaren, sagt er.

Es fehlt häufig der Mut zum telefonischen Notruf

„Wenn der gewalttätige Ehemann in der Wohnung ständig präsent ist, fehlt oft der Mut, zum Telefon zu greifen“, weiß er. Durch die eingeschränkten Sozialkontakte fehle auch das soziale Umfeld, dass oft den Anstoß für eine Anzeige gibt. „In vielen Fällen ist es die beste Freundin, die eine Frau überredet, nach einem Übergriff zur Polizei zur gehen“, so Schaffrath. Im Fall von Kindern seien es oft Lehrer oder Ärzte, welche die Übergriffe bemerkten. „Wenn jetzt die Schule wieder anläuft, sind die Lehrer aufgerufen, ganz genau hinzuschauen und nachzufragen, wie das Kind die Zeit zu Hause erlebt hat“, rät der Experte.

Nicht nur die Schulen, auch Freunde oder Nachbarn seien oft wichtige Verbündeten von Gewaltopfern, die sich selbst nicht helfen können. „Die Erfahrung zeigt, dass sich Opfer immer jemandem öffnen – aber man muss manchmal gut zuhören und ihnen vor allem Glauben schenken“, so Schaffrath. Und wer das Gefühl hat, dass ein Mensch in Not ist, dürfe nicht zögern, das auch den behördlichen Stellen mitzuteilen. „Jugendämter oder Polizei wissen was zu tun ist – wer hier schweigt, schadet dem Opfer“, so der Polizeibeamte.

 Die Gründe, warum auch ruhige, ausgeglichene Familienväter plötzlich zuschlagen, seien vielfältig. „Man darf nicht vergessen, die Täter sind nur in den seltensten Fällen „blutrünstige Monster“ – es sind Männer, und manchmal auch Frauen, die in einer Ausnahmesituation den Kopf verlieren“, weiß er. „Momentan dreht sich alles nur um die Krise – die Medien sind voller negativer Schlagzeilen“, so Schaffrath. Dazu kämen persönliche Sorgen, Nöte und Ängste, in manchen Familien gehe es gerade um die Existenz. Manche Menschen gerieten in eine Gedankenschleife, die immer destruktiver werde und keinen Ausweg erkennen lasse. Schaffrath spricht von „multipler Überforderung.

Familienmitgliedern Zeit und Raum zum Rückzug geben

Viele Stresssituationen ließen sich im Vorfeld abmildern, glaubt der Konfliktmanager. „Jeder kann nur bei sich anfangen zu klären, welche Bedürfnisse er gerade hat“, weiß er. Selbst wenn man ohne Arbeit und mit Sorgen zu Hause sitzt, müsse man sich den Tag strukturieren und sich kleine Ziele setzen, die man am Abend abhaken kann. „Der Mensch braucht Erfolgserlebnisse.“ Als Familie könne man gemeinsame Aktivitäten unternehmen, müsse aber jedem auch die Zeit lassen, sich zurückzuziehen. „Der Teamgedanke ist ganz wichtig“, betont Schaffrath. Ein Abend mit Gesellschaftsspielen könne bei wettbewerbsorientierten Spielen wie Mensch ärgere Dich nicht mehr schaden als nützen. „Lieber ein Spiel machen, bei dem man gemeinsam ein Ziel erreichen muss, das schweißt zusammen“, rät Schaffrath.

Auch Familientherapeutin Simon-Saar rät zu schönen gemeinsamen Tätigkeiten. Und zu konstruktivem Streit. „Es ist normal, dass es in der Familie kracht, gerade in der jetzigen Situation“ sagt sie. Doch Paare müssten sich eine gewisse „Streitkultur“ angewöhnen. Keine persönlichen Vorwürfe, sondern klare Botschaften, wenn etwas zu klären ist. Und bevor ein Streit eskaliert, müsse abgebrochen werden. „Für Frauen ist das schwer, aber manchmal muss man seinen Partner einfach in Ruhe lassen und das Problem am nächsten Tag besprechen, wenn sich alles beruhigt hat“ ist ihr Tipp aus der Beratungspraxis.

Eine Internetseite des bayerischen Familienministeriums bietet Informationen rund um das Thema Gewalt. Hier findet man nicht nur Informationen und Handreichungen zum Thema, sondern auch Links und Kontaktdaten zu den wichtigsten Opferschutzstellen. (Fridtjof Atterdal)

www.bayern-gegen.gewalt.de

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