Kultur

Die Künstler halten fest, wie sich der Mensch die Welt visuell untertan macht: Hier die Dresdner Neustadt vom Schlossturm aus (Johann Carl Enslen und Carl Georg Enslen, 1820). (Foto: GNM)

02.01.2015

Auf zu neuen Horizonten!

In der Sonderausstellung "Die Vogelperspektive" zeigt das Germanische Nationalmuseum, wie sich der Mensch die Erde auch visuell untertan gemacht hat

Der Blick von oben auf die Welt war immer den Göttern vorbehalten. Sie thronten hoch über den Wolken im Himmel oder wohnten – wie bei den alten Griechen – auf dem Olymp. Von dort oben, der Erde entrückt, warfen sie ihren göttlichen Blick von oben auf das elende Treiben der Menschen unten. Diese erhabene Weltsicht wich erst vor 500 Jahren, um 1500, einer buchstäblich anderen Welt-Anschauung: In der Renaissance wollte der Mensch selbst hoch hinaus und sich seine Welt von oben selbst anschauen.
Diesen Blickwinkel einer neuen Wahrnehmung der Welt thematisiert, nach eigenen Angaben erstmals, das Germanische Nationalmuseum Nürnberg in der großen, kulturgeschichtlichen Sonderausstellung Die Vogelperspektive. Sie zeigt, wie sich der Mensch – wortwörtlich – über die Welt erhebt, sie aus der Sicht von oben neu vermisst und sich in seiner Ver-Messenheit neue Horizonte eröffnet.
Der bis dahin eher allegorisch zu verstehende Turmbau zu Babel wird Realität: Von Bergen und Burgen, von Kirchtürmen herab macht sich das menschliche Auge Städte und Landschaften untertan, vermisst sie neu mit Hilfe der Zentralperspektive und geometrischer Projektionen.

Nach oben klettern

Und so steht denn auch der Riesenholzschnitt der dreidimensionalen Ansicht von Venedig von Jacopo de’ Barbari aus dem Jahr 1500 am Anfang der Ausstellung: In akribischer Detailverliebtheit bildet er die Stadt aus der so genannten Kavaliersperspektive ab, als Parallelprojektion schräg von oben – auf sechs Holzstöcken, ein Tableau von insgesamt etwa eineinhalb auf drei Metern.
Das ist nur ein Exponat von mehr als 200 Ausstellungsstücken, die die rasante Entwicklung der Vogelperspektive über 500 Jahre hinweg dokumentieren: mit Gemälden und Stichen, mit Panoramen und Rundprojektionen, mit Veduten, Karten und alten Stadtmodellen (zum Beispiel auch von Ingolstadt), mit Globen, Atlanten und Weltkarten, aber auch mit Fotografien und Filmen.
Vor allem der Fortschritt der Technik beförderte die neue Weltsicht aus der Vogelschau: Die Baumeister ließen Kirchtürme schier in den Himmel wachsen, wer dort hinaufkletterte schaute auf die wachsenden Metropolen: Stadtansichten auf Wien und Berlin von oben, auf Dresden und vor allem auf Nürnberg reihen sich, oft handkoloriert, in großen und kleinen Formaten aneinander. Berühmt vor allem ist der Blick auf Paris, von Notre-Dame aus etwa, wie ihn Victor Hugo in seinem Roman Der Glöckner von Notre Dame unnachahmlich schilderte; oder vom Eiffelturm, der Paris als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts zeigt, wie Walter Benjamin sie in seinem Passagenwerk beschrieben hat.

Erhaben und allmächtig

Auch die zunehmende Eroberung der Natur und der Berge eröffnet neue Perspektiven, wofür als malerischer Höhepunkt der Ausstellung Ernst Ludwig Kirchners Blick ins Tal (1918/19) steht, ein Gemälde, das das neu aufkommende Gefühl der Erhabenheit repräsentiert, mit der der Mensch der Natur jetzt gleichsam auf Augenhöhe entgegentritt und sich aus quasi aus göttlicher Sicht seiner Allmacht und Allwissenheit bewusst wird.
Vertreten sind in der Ausstellung auch Künstler des Futurismus und Konstruktivismus, die wie Kasimir Malewitsch in seinen suprematistischen Modellen die Welt neu erfinden und konstruieren und damit ebenfalls eine neue Weltsicht, jetzt gleichsam aus einer virtuellen Vogelperspektive, ermöglichen.
Aber erst, als der Mensch buchstäblich vogelgleich von der Erde abhob, in die Luft ging und fliegen lernte, feierte die Vogelperspektive ihre Triumphe. 1783 stieg die erste „aerostatische Maschine“, die Montgolfière, der Heißluftballon der Gebrüder Montgolfier, in Frankreich in die Lüfte; und kaum 100 Jahre später entstanden die ersten Luftaufnahmen von Paris.

Selber fliegen

Otto Lilienthal übte sich im Gleitflug und leitete endgültig die Ära der Luftfahrt ein, die mit Zeppelinen und Flugzeugen die „Vogelperspektive“ insofern demokratisierten, als bald jedermann sich die Welt von oben anschauen konnte. Was in unscharfen alten Filmen und braunstichigen Fotografien in der Ausstellung grandios gezeigt wird.
Freilich geht es auch um die Kehrseite des Fliegens: Luftaufnahmen von Bomberpiloten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs zeigen zerstörte Städte aus der Vogelschau.
Am Ende dieser Ausstellung steht denn auch die von Gerhard Richter für seine Gemälde verwendete Luftaufnahme 14. Feb. 45. Das Foto zeigt das zerstörte Köln, nach dem Richter eines seiner abstrakten und dabei doch gegenständlichen Bilder zerbombter Städte malte. Dieses Foto leitet zugleich zur anderen, derzeit in Nürnberg zu sehenden großen Gerhard-Richter-Ausstellung und ins kaum einen Steinwurf weit entfernten Staatsmuseum für Moderne Kunst über, wo das Gemälde Richters seiner ruinierten Heimatstadt hängt: das Stadtbild des zerstörten Dresden, gesehen aus der so tödlichen Vogelperspektive.
(Fridrich J. Bröder) Bis 22. Februar. Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg. Di. bis So. 10 – 18 Uhr, Mi. bis 21 Uhr. www.gnm.de Abbildung:
Postkarte von Preßburg (Bratislava) aus dem Jahr 1905 (Franz Anton Schlein). (Foto: GNM)

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