Kultur

Poetische Bilder drängen den Text, der nur teilweise live gesprochen wird, in den Hintergrund. Katja Bürkle in der weiblichen Hauptrolle. (Foto: Linkel)

18.03.2011

Ballett des Begehrens

Regisseurin Julie Van den Berghe rettet Marguerite Duras’ Inzest-Schnulze "Agatha"

Das Leben ist eine Baustelle – so wie das Bühnenbild (André Joosten), das als museumstaugliche Kunst-Installation durchgehen könnte: Da hängen Schaukel-Schnüre und Plastikplanen von der Decke, Bretter liegen herum, eine Leiter ragt aus der Bodenluke, rechts steht ein in Filz verpacktes Klavier, und überall ist Sand. Im Hintergrund häuft er sich gar zu einer riesigen Düne auf, die durch Türöffnungen hereinquillt in die verfallende Villen-Herrlichkeit mit wehenden weißen Vorhängen.
In diesem Ambiente macht sich „Er“ (Stefan Merki) mit Stichsäge und Akkuschrauber über Holzlatten her. Dann bricht „Sie“ (Katja Bürkle) in das dekonstruktivistische Heimwerkerparadies, indem sie sich durch Sperrholzwände sägt, übers Klavier kraxelt und das alte Blumenmusterkleid anzieht, das sie damals trug: als Siebzehnjährige, die mit ihrem Bruder einen Sommer lang eine erotische Verbindung einging in der Villa der Eltern am Meer.

Verlorene Kindheit

Davon erzählt Marguerite Duras in ihrem Dialog Agatha, und wie so oft bei der französischen Autorin nervt schon der schwurbelige Stil dieser verdünnten „Wälsungenblut“-Story. Aber in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele geschieht das Wunder. Die belgische Regisseurin Julie Van den Berghe (1981 geboren) macht aus der Inzest-Schnulze ein Ereignis von filigraner Künstlichkeit: ein sanft surreales Ballett des Begehrens und zugleich eine wehmütige Performance über die verlorene Kindheit.
Man sieht den Mann und die Frau, wie sie sich ängstlich fliehen, verfolgen, verfehlen – um schließlich zueinander zu kommen in Momenten beklemmend schwüler, dennoch spielerischer erotischer Spannung: Da leuchtet der Bruder der Schwester mit der Taschenlampe unter den Rock oder beide verrenken ihre Leiber in seltsam krampfiger Gelöstheit ineinander, ehe sie ein Loch buddeln, um den Kopf in den Sand zu stecken. Zwischendurch vollziehen sie ein zwanghaftes Ritual der Kindheitsvergegenwärtigung, indem sie mit immer gleichen Schrittfolgen über Holzbalken hüpfen, und wenn sie ihre intime Begegnung in jenem Sommer vor Jahren rekapitulieren, rollt sich die Frau in einer Zinkwanne zusammen wie ein Embryo.
Es ist ein Bombardement mit Bildern voll betörend-verstörender Poesie, das einen an diesem Abend richtiggehend verhext. Gerade weil die archetypische Wucht der Szenen durch hauchzarte Ironie abgefedert ist, bleiben sie so gespenstisch genau in der Schwebe – und von jedem Schwulst unbefleckt. Anders als Duras’ Dialog von 1981, der mit seiner penetrant behaupteten Melancholie, seiner prätentiösen, hohlen Empfindungshuberei heute mehr denn je als Kitsch erscheint.
Instinktsicher drängt die Regisseurin daher den Text in den Hintergrund, betont Bild und Choreografie, lässt die großartigen Schauspieler nur teilweise live sprechen, während lange Dialogpassagen als quäkende Tonkulisse von einem Kassettenrecorder abgespielt werden. Das schafft die nötige Distanz und artifizielle Verfremdung.
Natürlich bleibt diese hinreißende Aufführung mangels textlicher Substanz eine Luftnummer, ein geniales, funkelndes Virtuosenstück aller Beteiligten. Aber was zupackende, erschreckend präzise und konsequente Regie aus einem Stück machen kann, das für sich genommen nur noch schwer erträglich wäre, das führt Julie Van den Berghe mustergültig vor.  (Alexander Altmann)

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