Kultur

Andrea Ringsgwandl in ihrem Act. (Foto: Julian Baumann)

15.06.2018

Dadaistische Peepshow

64 Stunden lang „New Beginnings“ in den Münchner Kammerspielen

Am Boden ein Kübel voller Zitronen. Ein Mann greift sich eine der Früchte und beißt hinein, als wär’s ein Apfel. In den folgenden Minuten wird er die Zitrone samt Schale aufessen, ohne eine Miene zu verziehen. Und weil sauer bekanntlich lustig macht, mischt sich in das Staunen, das Mitleid und die Beklemmung des Zuschauers auch Erheiterung.
Dieses Gefühlsamalgam konnte man oft erleben, wenn man den Kurz-Performances zuschaute, die unter dem Titel New Beginnings in den Münchner Kammerspielen über die Bühne gingen. Denn der Zitronenesser ist nur einer von gut 150 Mini-„Acts“, die 64 Stunden lang rund um die Uhr abliefen, ohne Wiederholung, jeder ein Unikat. Weshalb auch jeder Zuschauer nur einen Bruchteil des Ganzen mitbekam.
Da sah man beispielsweise einen Staubsaugroboter herumkreiseln, auf dem eine weiße Plüschkatze saß. Man sah eine Frau in ein Handy sprechen, das von einem Heiligenschein umgeben war, wobei sie Sätze sagte wie „Schuld ist der Algorithmus, der Depp“. Dann gab es zwei junge Männer, nur mit Turnhosen und Affenmasken bekleidet, die sich gegenseitig Enthaarungspflaster auf Rücken und Beine klebten, um sie mit einem Ruck abzuziehen, was offenbar saumäßig weh tut. Merke: Der Mann, der seinen Pelz loswerden will, macht sich gerade dadurch zum Affen.
Wer denkt, „Bei denen piept’s wohl!“, der liegt gar nicht so falsch. Denn der Clou dieses Marathon-Happenings ist – neben der Länge – vor allem das Setting, das bewusst einer Peepshow nachempfunden wurde: Rund um eine Drehbühne sind zwölf dunkle Einzelkabinen angeordnet, in denen jeweils nur ein Zuschauer Platz findet, der durch ein Fenster auf die Bühne blicken kann – bis ein Schieber runtergeht, um sich kurz darauf für den nächsten „Akt“ zu öffnen.

Masochistisches Publikum

Anders als bei echten Peepshows kamen Nuditäten hier eher andeutungsweise vor. Etwa in Gestalt der jungen Asiatin in sozusagen sportlicher Bekleidung, die minutenlang einen Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen ließ. Bleiben durfte jeder Zuschauer, so lange er wollte, und erst wenn er seine Kabine verließ, konnte der Nächste rein. Was in den Stoßzeiten zu langen Warteschlangen führte, die beweisen: Der Masochismus des Publikums ist dem der Darsteller teilweise ebenbürtig.
Ausgedacht und inszeniert hat diesen dadaistischen Wahnsinn mit Methode der Münchner Theater-Treibauf Alexander Giesche, unterstützt von zahllosen selbstaufopferungsbereiten Helfern. Der Aufwand hat sich gelohnt. Denn ehe man sich’s versieht, hat man zwei Stunden in seiner Dunkelkammer zugebracht und fasziniert diesem Gemisch aus Jahrmarktsbuden-Spektakel, Wunderkammer-Witz und poetischem Bühnenzauber zugesehen. Hier war er endlich wieder einmal zu erleben, der uralte Reiz von Menschen, Tieren, Sensationen. (Alexander Altmann)

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