Kultur

Stefan Gregor zeigt Orte in Aschaffenburg, in denen US-amerikanische Streitkräfte stationiert waren, und was davon übriggeblieben ist. (Foto: Gregor)

05.04.2019

Das Verschwinden einer Stadt in der Stadt

Stefan Gregor über seine Fotoserien, die das Leben und schließlich den Abzug amerikanischer Truppen aus Aschaffenburg dokumentieren

Das Jahr 1993: Helmut Kohl war Bundeskanzler, das D-Netz gerade eingeführt, man nutzte Btx statt E-Mail, das „www“ war noch nicht gestartet. Bill Clinton wurde am 20. Januar amerikanischer Präsident, Finnland, Schweden und Österreich begannen mit den Beitrittsverhandlungen zur EU. Es gab einen ersten Sprengstoffanschlag auf das World Trade Center in New York, in Solingen starben fünf Frauen und Mädchen bei einem Neonazi-Brandanschlag, in Phnom Penh hatte die Bundeswehr ihr erstes Todesopfer bei einem UN-Auslandseinsatz zu beklagen. In Deutschland wurden die fünfstelligen Postleitzahlen eingeführt, in Bosnien tobte der Balkankrieg, seit dem 1. Januar gab es den europäischen Binnenmarkt. Und ein Bildjournalist durfte im Aschaffenburger Stadt- und Stiftsarchiv seine Fotos zum Abzug der US-Truppen aus der Stadt ausstellen.

Von Januar bis April 1992 war ich nur an den Wochenenden in Aschaffenburg, ich machte zu der Zeit meinen Fotografenmeister in Würzburg und wohnte dort unter der Woche. Als ich danach wieder regelmäßig durch die Stadt fuhr, fiel mir im amerikanischen Viertel um die Würzburger Straße die Veränderung auf: In den Kasernen der US-Army standen keine Panzer mehr, die Kontrollen an den Kasernentoren fehlten, Umzugsaktivitäten bestimmten das Bild: Die Amis packten ein, der „draw-down“ des Standorts lief.

Ich bin „Mauerjahrgang“ 1961, US-Amerikaner in Aschaffenburg waren für mich Alltag. Ebenso wie der Kalte Krieg und die beiden großen Blöcke West und Ost oder, wie manche es gerne ausdrückten: freie gegen unfreie Welt, Freiheit statt Sozialismus.

Wie würde es aussehen, wenn am Jahresende kein einziger Soldat mehr hier wäre? Wenn auch die vielen Familienangehörigen nicht mehr hier wären? Wenn es keine „Christmas-Lighting-Ceremony“ zum Nikolaustag für verwaiste oder sozial benachteiligte Kinder mehr gäbe? Und keinen Neujahrsempfang im Offizierscasino an der Berliner Allee? Kein deutsch-amerikanisches Volksfest?

Das Thema fesselte mich, ich streifte bis zum Jahresende 1992 immer wieder durch Kasernen und Wohnviertel, um das langsame Verschwinden einer Stadt in der Stadt zu dokumentieren.

Das Aufregende daran: Bislang konnte man – auch als Pressefotograf – nur in Ausnahmefällen in die Kasernen hinein und noch seltener dort Fotos machen. Nun stand mir alles offen – nicht zuletzt dank des „Persilscheins“, den ich vom damaligen Deputy Commander Richard Benjamin bekommen hatte und der mir Tür und Tor öffnete.

Das Ergebnis war eine umfangreiche Fotodokumentation, die von März bis Mai 1993 im Aschaffenburger Stadt- und Stiftsarchiv als Ausstellung präsentiert wurde.

Das erste Großprojekt, das nach dem Abzug in Aschaffenburg Gestalt annahm, war die Gründung einer Fachhochschule in der Jägerkaserne. Bis 1995 waren die Gebäude renoviert, die organisatorischen und verwaltungstechnischen Arbeiten erledigt und der Lehrbetrieb konnte starten. Zuerst als Teil der FH Würzburg-Schweinfurt, später dann als selbstständige Hochschule.

Panzerstellflächen und Housing Areas (die Wohngebiete der Amerikaner) verwandelten sich: Es entstanden Gewerbegebiete und neue Wohnviertel, bestehende Kasernengebäude wurden zu Mietshäusern, am Wohngebiet „Rosensee“ wurde der Stadtgarten angelegt. Das war die „Konversion“ genannte Umgestaltung, eine riesige Chance für die Stadt und ihre Bewohner. Da solche Veränderungen eher schleichend vor sich gehen, merkt man erst nach einiger Zeit, was sich alles geändert hat, und man vergisst, wie es vorher aussah.

Menschenleere Orte

Über diese Veränderung der früheren US-Flächen wollte ich wieder eine Fotoreportage machen, angelegt als „Vorher – Nachher“, als Vergleich sowie Entdeckung des neu Entstandenen. As Time Goes By ist die Ausstellung überschrieben, die Veränderungen ein Vierteljahrhundert nach dem Abzug der US-Streitkräfte aus Aschaffenburg zeigt. Ausstellungsort ist abermals das Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg.

Der größte technische Unterschied zur Fotoserie von 1992 war, dass ich nicht mehr auf Film fotografierte, sondern digital. Der größte inhaltliche Unterschied zu 1992 war, dass ich nun meist Bilder von Gebäuden und Gebieten machte, auf denen kaum Menschen zu sehen waren. Ich war selbst erstaunt, wie schwer ich mir tat, für die Neuaufnahmen die richtigen Perspektiven und Standorte zu finden. Hier half oft nur der direkte Vergleich vor Ort mit den Aufnahmen von 1992. Manches konnte gar nicht mehr von genau demselben Standpunkt aus aufgenommen werden, anderes hingegen hatte sich kaum verändert. (Stefan Gregor)

Information: Bis 5. Mai. Aschaffenburger Stadt- und Stiftsarchiv, Schönborner Hof, Wermbachstraße 15, 63739 Aschaffenburg. Mo. bis Fr. 11-16 Uhr, Sa./So. 6./7. April und 4./5. Mai 11-16 Uhr.

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