Kultur

Gruppendynamisches Rollenspiel mit bösen Folgen: Dmitri Tcherniakov inszeniert Prokofjews Tolstoi-Oper Krieg und Frieden. (Foto: Wilfried Hösl)

10.03.2023

Der Mensch als Bestie

Sergej Prokofjews Tolstoi-Oper „Krieg und Frieden“ erstmals in München

Die Premiere dieser Oper im Frühherbst 2018 am Staatstheater Nürnberg war damals eine veritable Sensation. Für ihre Leitung wurde Joana Mallwitz 2019 von einer internationalen Kritik-Jury zur „Dirigentin des Jahres“ gekürt, viel gelobt zudem die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog. Jetzt haben Dmitri Tcherniakov sowie Vladimir Jurowski die Münchner Erstaufführung von Sergej Prokofjews Krieg und Frieden gestemmt.
Sie haben sich viel vorgenommen, vielleicht zu viel. Da ist der aktuelle Ukraine-Krieg Russlands: Wie geht man mit einem Stoff um, der in der Vorlage von Tolstoi die napoleonische Invasion in Russland verarbeitet und in der Vertonung Prokofjews aus den 1940er-Jahren eine direkte Brücke zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion schlägt? Darf man den stalinistischen Hurra-Patriotismus in der Partitur heute aufführen?

Man kann sich gut vorstellen, wie sehr Staatsopern-Generalmusikdirektor (GMD) Jurowski, der die Premiere dirigierte, sowie Tcherniakov mit dieser Oper seit Kriegsbeginn gehadert haben müssen. Sie sind selbst direkt betroffen: Tcherniakov ist gebürtiger Russe und Staatsopern-GMD Jurowski entstammt einer russisch-ukrainischen Familie. Für die Münchner Fassung haben sie problematische Stellen gestrichen, so den Propaganda-Chor am Schluss oder die Kriegsrat-Szene. Dort erscheint der russische Feldmarschall Kutusow wie ein „Generalissimus“ in Stalin-Manier.

Was die Münchner Produktion zusätzlich unter Druck setzte, war die Datierung der Premiere. Jurowski wollte unbedingt eine Premiere genau an diesem symbolträchtigen Tag. Vor 70 Jahren nämlich, am 5. März 1953, sind Prokofjew und der sowjetische Diktator Josef Stalin verstorben. Auch damit musste die Regie umgehen.

Der aktuelle Ukraine-Krieg ist zwar präsent, aber überlagert nicht die Inszenierung. Vielmehr möchte die Regie direkte Verbindungen herstellen zwischen 1812, den 1940/50er-Jahren und der Gegenwart, um die russische Geschichte als Kontinuum zu entlarven. Ein Spagat ist das Ergebnis. Wenn sich der Vorhang langsam öffnet, wird ein klassizistischer Saal mit Säulen sichtbar. Eine Menschenmenge bevölkert diesen Raum mit Matratzen und Liegen, offenbar Geflüchtete.

Als Assoziation drängt sich sofort das im März 2022 bombardierte Theater von Mariupol in der Ost- ukraine auf. Diese Assoziation bleibt allgegenwärtig, obwohl Tcherniakov einen ganz anderen Raum meint. Demnach bildet die von ihm entworfene Einheitsbühne den Säulensaal im „Haus der Gewerkschaften“ in Moskau nach. Hier wurden russische Staatsmänner aufgebahrt, auch Lenin und Stalin, zuletzt Michail Gorbatschow. Während der 1930er-Jahre fanden hier zudem stalinistische Schauprozesse statt, und 1948 startete in diesem Saal die große Formalismus-Kampagne gegen die sowjetische Musikelite: auch gegen Prokofjew. In diesem Einheitsbild befinden sich während der gesamten Inszenierung alle Charaktere, Choristen und Statisten.

Bei Tcherniakov sind sie offenkundig russische Staatsbürger, die in der Moskauer Säulenhalle Schutz suchen: Warum, bleibt offen. Sie vertreiben sich die Zeit, indem sie Krieg und Frieden nachspielen. Was recht harmlos als Rollenspiel beginnt, mutiert in der zweiten Hälfte zu einem Staat im Staate: mit Führer und Geheimpolizei, Tätern und Opfern. Das packt und fesselt. Sonst aber wirkt die Oper wie mit angezogener Handbremse inszeniert.

Das galt partiell auch für Jurowskis Leitung mit dem Bayerischen Staatsorchester. Im ersten Teil war er bemüht, alles Martialische mit gedehnten Tempi zu zähmen. Das ist in Kriegszeiten verständlich, wurde jedoch erst in der effektgeladenen zweiten Hälfte zu farbenreicher Vieldeutigkeit. Dafür aber profitierte der Gesang vom lyrisch-melodiösen Raum. Mit Olga Kulchynska als Natascha und Andrei Zhilikhovsky als Fürst Andrej gab es ein neues Opern-Traumpaar. (Marco Frei)
 

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