Kultur

Mauerrester einstiger Häuser aus Paulusbrunn. (Foto: Martin Droschke)

15.05.2020

Die Geschichte lebendig halten

Ein bayerisch-böhmisches Projekt, das an den einstigen Ort Paulusbrunn erinnert, hat durch die Grenzschließung einen herben Rückschlag erlitten

Östlich des oberpfälzischen Weiden liegt ein Zipfel von Bayern, in den sich nur selten Journalist*innen verirren. Weitere 20 Minuten Fahrt müssten sie auf sich nehmen, zum Böhmerwald hinauf. Und so gibt es von einer hochsymbolischen Aktion nur eine Handvoll wackeliger Amateurfotos, die kurz vor Ostern 100 Meter hinter dem Pass, auf dem die bayerisch-tschechische Grenze verläuft, den Beweis lieferten, dass der wahre Zusammenhalt der Europäer nicht in Brüssel, sondern von den Menschen geschmiedet wird, die direkt an den blutgetränkten Verwerfungs- und Trennlinien des 20. Jahrhunderts leben.

Spärliche Reste

Um zum Ort des Geschehens zu gelangen, muss sich das Auto an Bärnau vorbeiquälen, einem gut 3000 Einwohner zählenden, in seinem Erscheinungsbild bereits typisch böhmischen Städtchen. Im Normalfall würde ein Streifen Grasland folgen, das Sicht- und Schussfeld des Eisernen Vorhangs, und an dessen Ende ein 1896 scheinbar im Nirgendwo errichtetes Denkmal, die Böttgersäule. Man könnte dort parken und würde auf einem am Waldrand versteckten Friedhof stoßen.

Die Säule und der Gottesacker sind Überreste einer Gemeinde, die im 18. Jahrhundert von Bärnau aus gegründet und in den 1950er-Jahren vom Erdboden getilgt wurde. Aber seit die Tschechische Republik am 14. März der Corona-Pandemie wegen ihre Grenzen geschlossen hat, verhindert ein Polizeiauto die Fahrt dorthin. Selbst wenn die Presse etwas gewusst hätte, es wäre ihr deshalb nicht möglich gewesen zu filmen, wie Ehrenamtliche und Gemeindearbeiter aus Obora, Branka und Hale, den tschechischen Dörfern, zu denen das Gemeindegebiet heute gehört, die Gräber für Ostern hübsch machten, obwohl kein Einziger der Ihren dort begraben liegt.

Als der Friedhof 1837 eingerichtet wurde, waren die Paulusbrunner Bürger*innen Österreicher. Wirtschaftlich blieb der Ort vom bayerischen Bärnau abhängig, das sich auf die Herstellung von Knöpfen spezialisierte: Man pendelte oder ließ sich eine Heimarbeit zuweisen, zum Beispiel das Konfektionieren. Mit Gründung der Tschechoslowakei 1918 änderte sich lediglich die Staatsangehörigkeit.

Anders die deutsche Okkupation des böhmischen Grenzlands 1938, die Kommunisten und Juden zur Flucht ins noch freie Landesinnere zwang. Als 1945 die US-Army Paulusbrunn erreichte, bestanden versprengte SS-Truppen auf Widerstand bis zum letzten Mann.

Anfang 1946 dann die Vertreibung. In der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr ließ sich ein Großteil der Paulusbrunner direkt hinter der Grenze, in Bärnau, nieder. Die Bewohner des Ortsteils Hermannsreith bauten sich nur einen Steinwurf weit in Bayern eine neue Siedlung: Hermannsreuth. In den 1950er-Jahren mussten auch sie zusehen, wie ihr altes Dorf Haus für Haus abgetragen, in Weideland und Wald umgewandelt wurde.

In den wenige Kilometer tiefer im tschechischen Hinterland gelegenen, ebenfalls entvölkerten Dörfern Obora, Branka und Hale siedelte die kommunistische Regierung hingegen neue Bürger an: Vertriebene aus der Ukraine, Rumänien und der Slowakei.

Da laut kommunistischer Geschichtsschreibung eine deutschstämmige Bevölkerung dort nie existiert hatte, waren Irritationen, Ängste und Feindseligkeiten vorprogrammiert, als die Paulusbrunner*innen 1989 erstmals wieder einen Fuß in die verlorene Heimat setzen durften. Zumal auf deutscher Seite Forderungen nach Wiedergutmachung, Rückgabe und das Klischee vom Tschechen als faulem Haderlump über Jahrzehnte den Diskurs über die Vertreibung dominiert hatten.

Lehrreicher Pfad geplant

Auch wenn die Bürgermeister und Bewohner*innen von Obora, Branka und Hale der Bitte der ehemaligen Paulusbrunner*innen, sich in jenen Monaten, in denen die Grenze geschlossen ist, um den Friedhof des ausgelöschten Ortes zu kümmern, so selbstverständlich wie gerne nachgekommen sind, sieht Rainer J. Christoph in diesen Tagen „sein Lebenswerk und vor allem auch die Arbeit aller Beteiligten gefährdet“. Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte der 1946 in Weiden geborene ehemalige Rektor der Grundschule von Bärnau den Verein Via Carolina-Goldene Straße gegründet, dessen Name auf den Reiseweg des böhmisch-deutschen Kaisers Karl IV. von seiner Residenzstadt Prag nach Nürnberg anspielt, um zunächst bayerische und tschechische Schüler*innen, später Menschen jeden Alters auf unterschiedlichen Ebenen zusammenzubringen.

2016 bat ihn die Bürgermeisterin von Obora, Dana Lesak-Müller, sie bei der Renovierung der Böttgersäule zu unterstützen. Daraufhin fügte sich alles Weitere wie von selbst. Man beschloss, das weitläufige Areal des getilgten Ortes gemeinsam, aber zugleich aus beiden bis heute recht unterschiedlichen Perspektiven zu erforschen. Zeitzeugenberichte wurden eingeholt. Schülergruppen schwärmten aus, um überwucherte Schutthaufen und Keller, auch Bunker und Überreste der Grenzanlagen aufzuspüren und zu kartografieren – stets in gemischten Gruppen.

Eigentlich hätten die gesammelten Erkenntnisse dieses Frühjahr zu Tafeln aufbereitet werden sollen, damit jedermann an einem Wanderweg, dem zweisprachigen „Historischen Pfad Paulusbrunn“, die Wunden des 20. Jahrhunderts quasi physisch nachvollziehen kann. Doch dann kam der Lockdown. Die für die Gestaltung der Tafeln zuständigen Hochschulen in Weiden und Stríbro wurden geschlossen. Die Schulung der Wanderführer musste verschoben werden. Auf unbestimmte Zeit.

Und dann ist da natürlich noch jenes Problem, das die Ehrenamtlichen nicht durch einen Nachmittag des gemeinsamen Anpackens werden lösen können. Sponsoren haben, jetzt selbst ums wirtschaftliche Überleben ringend, ihre Unterstützung zurückgezogen. Die Finanzierung ist zusammengebrochen.
Sicher ist derzeit nur, dass sich auch vor Fronleichnam wieder jemand um den Friedhof kümmern wird. Aber niemand weiß, wie lange die Rinder, die sich auf dem ehemaligen Sicht- und Schussstreifen des Eisernen Vorhangs satt fressen, die einzigen sind, die verhindern können, dass zu viel Gras über die Geschichte wachsen wird. (Martin Droschke)

Abbildungen:
Der Friedhof von Paulusbrunn um 1930 und heute. (Fotos: Via Carolina, Martin Droschke)
Die Grenze ist geschlossen - deshalb haben an Ostern Menschen "drüben" die Gräber gepflegt.
Im Forschungsprojekt haben Schüler*innen den Friedhof kartiert. (Fotos: Martin Droschke)

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