Kultur

Treibriemen der Anarchie: Jean-Luc Bubert als McMurphy. (Foto A. Declair)

13.05.2011

Die Kreative Kraft der Psychose

Simon Solberg inszeniert „Einer flog über das Kuckucksnest“ am Münchner Volkstheater

Grandioser Stoff für Simon Solberg. Der Regisseur, Meister praller Bilderflut, hat sich für das Münchner Volkstheater der Bühnenfassung von Einer flog über das Kuckucksnest bemächtigt. Aus dem Plädoyer wider die Tyrannei der Normalität macht er ein Spiel über die kreative Kraft der Psychose: Der anarchisch gesinnte McMurphy, Neu-Patient in einer geschlossenen Anstalt, bekämpft die Herrschaft trivialer Alltagstauglichkeit und den Zwang zur Norm. Er neigt zum Ausbruch. Zwar scheitert er, aber sein Tun ist beispielgebend für die Mitpatienten: Sanktionen gegen das Anderssein sind zu beseitigen.
Solberg nimmt diese Botschaft des Stücks von Dale Wasserman nach einem Roman von Ken Kesey auf und übergießt die Handlung mit einer Flut von Assoziationen. Er bedient sich ganz und gar heutiger Eindrücke, um sie dann der Grundidee eines eigentlich historisch gewordenen Stoffs entlang zu einem Bild zu formen, das am Ende dessen Zeitlosigkeit beweist. Der gelernte Schauspieler zappt sich durch die Unübersichtlichkeit der Jetztzeit und erweckt so die von ihm inszenierten Handlungen zu neuem Leben, und das in einer Eindringlichkeit, die eher rückwärtsgewandte Ansätze nie gewönnen: Weil er alles in die aktuelle Lebenswirklichkeit seines Publikums übersetzt.
Dieser Verzicht auf alles Herkömmliche macht jetzt auch das Kuckucksnest zu einem regelrecht jungfräulichen Stück. Das noch dadurch gewinnt, dass er keine Sekunde lang auf die populäre Verfilmung mit Jack Nicholson zurückgreift. Bei ihm beispielsweise wird Bromden, der sich in autistische Zustände flüchtende Kraftprotz, statt zu einem Indianerhäuptling zu einem herzensguten Taliban. Und der – perfekt dargestellt von Özgür Karadeniz –, begreift allmählich, dass er seine ungeheure Physis auch für seine Freunde einsetzen kann, statt sie von seinen Feinden missbrauchen lassen zu müssen. Johannes Schäfer wiederum macht den emotional lädierten Martini zu einem Rapper mit sensationellen Tanz- und Sprechgesangseinlagen. Und Justin Mühlenhardt beweist als Billy Bibbit, dass die Gesellschaft oft ihre Besten von vornherein ausspuckt, nur weil sie zu sensibel sind, um unter dauerhafter Verprügelung mit Maßstäben der Konformität zu funktionieren.
Dass dann Jean-Luc Bubert als McMurphy inmitten Solbergscher Bildergewalt als Treibriemen der Anarchie bestens funktioniert, versteht sich fast von selbst: Wenn um ihn herum auf der Bühne aus einfachsten Mitteln immer neue, phantastische Wirklichkeiten entstehen, aus aufeinandergeschichteten Matten und einer Leuchstoffröhre ein Fotokopiergerät wird und aus einer Lebensrettungsfolie ein schickes Abendkleid, dann kann man als Held gewollter Unübersichtlichkeit eben brillieren. Solberg gibt dem Publikum durch sein offenes Spiel mit den Wirklichkeiten eine Ahnung jener Gegenwirklichkeit, welche die Äußerungen des Nicht-Konformen als gleichrangig zulässt: eine schöne Utopie.
(Christian Muggenthaler)

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